Freitag, 23. April 1976 - ein Ausflug, der in Erinnerung bleibt.

 

Es war ein schöner, frühlingshafter Freitag. In Ostberlin wurde der Palast der Republik feierlich eingeweiht und ich begleitete meinen 75-jährigen Großvater, Kurt Hiepe, bei einem Ausflug mit dem Bus von seinem Wohnort Kahla zur Autobahnraststätte Hermsdorfer Kreuz. Ich war 28 Jahre alt und als Lehrer an einer Betriebsberufsschule tätig.

Wir fuhren am frühen Nachmittag mit dem Linienbus über Stadtroda bis zur Haltstelle Kreuzstraße, nahmen den Fußweg durch den Wald und trafen uns mit meiner Tante Anneliese in der Transit-Gaststätte des Rasthofes Hermsdorfer Kreuz. Anneliese Schulze lebte zu dieser Zeit in Westberlin und war befreundet mit einem Österreicher.

Tante Anneliese und der Österreicher fuhren an diesem Freitag mit dem Auto von Österreich über die  Transitautobahn A9 nach Westberlin. Das hatte sie mitgeteilt und vorgeschlagen, dass sie haltmachen, werde am Rasthof Hermsdorfer Kreuz, um sich mit ihrem Vater, Kurt Hiepe, zu treffen. Ich hatte am Nachmittag keinen Unterricht und begleitete meinen Großvater. Gemeinsam mit Anneliese Schulze und dem Österreicher tranken wir Kaffee in der Transit-Gaststätte, und die Tante bezahlte alles und schenkte mir:

1 Schachtel Zigaretten
1 Gasfeuerzeug
1 Gedenkmünze von der Olympiade in Österreich (Zahlungsmittel) und zwanzig D-Mark

Für Anneliese hatten wir Porzellan (1 Kaffeeservice) aus Kahla mitgenommen. Am späten Nachmittag tauschten wir am Parkplatz der Raststätte Richtung Berlin die Geschenke aus und verabschiedeten uns. Mein Großvater bekam zwei Beutel mit Zeitungen, Südfrüchten u. ä. (siehe Kopie des Einziehungs-Entscheides der DDR-Zollverwaltung und einen Zwanzigmarkschein.    

Auf dem Rückweg zur Bushaltestelle, der uns durch ein kleines Waldstück führte, hielten plötzlich zwei Pkw „Wartburg“ hinter uns. Mehrere Männer stiegen aus, umringten uns, zeigten Ausweise und wir, mein Großvater und ich, wurden gezwungen getrennt in Autos einzusteigen. Ohne zu wissen, warum und wohin, fuhren wir in ein nahe gelegenes Objekt, das sich später für uns als Dienststellen des MfS und der Transitgruppe (Autobahnpolizei) herausstellte.
Getrennt wurden wir von Mitarbeitern verhört, die sich als Angehörige der Zollverwaltung vorstellten. Es wurden Protokolle angefertigt, von denen wir keine Kopien erhielten, die wir aber unterschreiben mussten. Mir wurde in der Vernehmung vorgeworfen, von meiner Tante irgendwelche Gegenstände entgegen genommen zu haben, „man“ hätte das beobachtet und ich sollte diese Dinge dem „Vernehmer“ abgeben. In der Annahme, „man“ hätte nicht so genau sehen können, was ich erhalten hatte, nannte ich nur das Feuerzeug und die Zigaretten und legte beides auf den Tisch. Obwohl ich schon etwas Angst hatte, verschwieg ich die Münze und den Zwanzigmarkschein und konnte dadurch beides behalten. Die Münze befindet sich noch heute in meinem Eigentum, das Geld haben wir später im Intershop ausgegeben.

Die Vernehmung dauerte mehrere Stunden. Vielleicht auch deshalb, weil der Vernehmende nur mit „Zweifingersuchsystem“ Maschine schreiben konnte und ich viele unsinnige Fragen beantworten musste. Man gestattete mir gegen 23:00 Uhr das Objekt zu verlassen, um von der Telefonzelle am Parkplatz der Raststätte meinen Vater, Helmut Hiepe, zu Hause in Kahla anrufen zu können. Wir hatten, was für damalige DDR-Verhältnisse selten war, einen privaten Telefonanschluss und einen PKW.

Unsere Angehörigen wussten nicht, wo wir so lange abgeblieben waren. Ursprünglich wollten wir am späten Nachmittag wieder mit dem Bus zurück nach Kahla fahren. Ich erzählte meinem Vater kurz das Geschehene und bat ihn, uns in Hermsdorf abzuholen.

Über die Vernehmung meines Großvaters weiß ich heute nicht mehr sehr viel. Ich erinnere mich nur, dass er durch die Vernehmung psychisch sehr angeschlagen und über den Verlust der Geschenke und des 20-DM-Scheines sehr verärgert war. Nach dem Tod meines Großvaters tauchten die Einziehungs-Entscheide über die beschlagnahmten Gegenstände in den Unterlagen meines Vaters wieder auf. Nach Einsichtnahme in meine Stasiakte fand ich auf einer Karteikarte, die von der Stasi im September 1986 vom Mitarbeiter Schramm angelegt wurde, den Vermerk „Verbreitung sonstiger Materialien (Transitabkommen)“ und einen Hinweis auf das Datum 23. April 1976. Im Jahr 1986 sollte ich aus beruflichen Gründen für einige Wochen nach Kuba fliegen. Die Stasi verhinderte jedoch diesen Auslandseinsatz mit der Begründung, ich sei nicht zuverlässig genug. Diese Begründung erhielt ich damals von einem Herrn Schramm!

Mörsdorf im Oktober 2008                                                Roland Hiepe
Einziehungsprotokoll
 
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