Dr. rer. nat. Friedhelm Hädrich - ehemaliger Hermsdorfer

© Dr.rer.nat.Friedhelm Hädrich   [ Fußnoten Red. ]
Kurzbiografie
  • 15.12.1934 in Hermsdorf
  • 1941 - Juli 1949 achtklassige Grundschule in Hermsdorf
  • 1949 - 1950 Oberschule in Hermsdorf
  • 1950 - 1951 Oberschule in Gera-Untermhaus
  • 1951 - 1953 „Geraer Oberschule I“, seit 1993 „Zabel-Gymnasium Gera“
  • 17.05.1953 Flucht über Gera, Leipzig, Ostberlin und mit der S-Bahn über Ostkreuz nach Gesundbrunnen (Westsektor)
  • 18. - 21.05.1953 Notaufnahmeverfahren
  • November 1953 - März 1955 Förderkurs zum Abitur in Petershagen / Nordrhein-Westfalen
  • 1955 Studienbeginn der Naturwissenschaften in Freiburg im Breisgau, Albert-Ludwigs-Universität
  • Mai 1962 Promotion in Bodenkunde, Geographie und Geologie
  • 01.06.1962 zum wissenschaftlichen Assistenten ernannt
  • 01.06.1968 wissenschaftliche Angestelltenstelle umgewandelt
  • 02.09.1970 Beamtenverhältnis auf Lebenszeit und Ernennung zum Akademischen Rat
  • 01.09.1971 Akademischen Oberrat
  • 31.12.1996 in den Ruhestand versetzt.
  • 19.12.1957 Heirat mit Frau Renate zwei Söhne, Johannes und Thomas

Dr. rer. nat. Friedhelm Hädrich

Dr. rer. nat. Friedhelm Hädrich

 
Biografie


Kindheit und Jugendjahre

Am 15.12.1934 wurde ich als Sohn des Reisevertreters Albert Hädrich und seiner Ehefrau Dora geb. Steudel in Hermsdorf geboren. Mein Vater stammte aus Reichenbach in Thüringen und meine Mutter aus Döbeln in Sachsen.

Mit Mutter, Schwester und zwei Großmüttern erlebte ich eine behütete Kindheit. Wir hatten ein eigenes Haus mit Garten. Allerdings vermisste ich meinen Vater sehr, der von 1940 - 1946 Kriegsdienst (mit 1 Jahr Gefangenschaft) leisten musste. Die Versorgungslage wurde im Laufe des 2. Weltkrieges zunehmend schlechter und erholte sich bis zu meinem Weggang aus Hermsdorf 1953 nur sehr langsam. Durch Obst, Beeren und Gemüse aus dem großen Garten ging es uns aber noch erträglich. Ich hatte im Hermsdorfer Nordosten ein sehr großes Spielrevier, Körnerstrasse [1]- Schillerstraße und Wielandstrasse, sowie Raudenbach, Tunnel, Teiche, Wald, Buchborn [2] usw. und ausreichend Spielkameraden. Leider musste ich aber in vielen Dingen schon sehr früh meinen Vater vertreten, z.B. beim Anfahren und Zurichten des Brennholzes (Sägen, Hacken und Aufschichten lernte ich bald) oder beim Tragen der großen kreisrunden Kuchen, die bis zum Bäcker Stöbe [3] oder später zur Konsumbäckerei ihr Gewicht hatten.

Von September 1941 bis Juli 1949 [4] besuchte ich zunächst die achtklassige Grundschule in Hermsdorf, später Friedensschule [5] genannt. Zwei hervorragende Lehrer werden wegen ihrer Güte und ihres pädagogischen Geschicks von mir besonders wertgeachtet, Karl Jahn und Günter Diezel. Lehrer Jahn wurde als Altlehrer noch während der fünften Klasse, gegen Ende 1945, leider in den Ruhestand versetzt. Wegen meiner guten schulischen Leistungen empfahl Lehrer Diezel im Gespräch mit meinem Vater den Besuch der Oberschule. Dies war aber offensichtlich gar nicht so einfach. Um das zu verdeutlichen, habe ich der Festschrift „110 Jahre Zabel-Gymnasium Gera – 1889-1999“ (hrsg. vom Zabel-Gymnasium Gera 1999), Seite 67, folgende Passage entnommen:

„1949 nach Abschluss der Grundschule erfolgte die Delegation aus den Grundschulen zum weiteren Besuch der Oberschule. Der Vorgang der Delegation war eine absolut politische Entscheidungsangelegenheit. Wer nicht mindestens der FDJ angehörte oder zumindest Arbeiter- und Bauernabkömmling war, hatte trotz eines insgesamt ‚sehr guten‘ Zeugnisses kaum eine Chance, die höheren Weihen der sozialistischen Schulbildung zu erhalten“.

Da ich ein Arbeiterkind war, wurde ich wohl nur deshalb zur Oberschule zugelassen. So verbrachte ich 1949/1950 das neunte Schuljahr in der Oberschule in Hermsdorf. Die gesellschafts-politische Beeinflussung durch die Schule war in diesem Jahre noch relativ gering.

Von September 1950 bis einschließlich Januar 1951 war ich, wie auch einige andere auswärtige Schüler, der Oberschule in Gera-Untermhaus zugeteilt und ab Februar 1951 bis Mai 1953 der „Geraer Oberschule I“, seit 1993 „Zabel-Gymnasium Gera“ genannt. Mein Schulziel war die allgemeine Hochschulreife (Abitur) und auf weitere Sicht das Studium der Chemie; dieses Fach war eines meiner Lieblingsfächer. Dazu hatten die Lehrer Queißner in Hermsdorf und Sauter in Gera maßgeblich beigetragen. In der Geraer Oberschule begeisterten mich auch die Fächer Biologie, Erdkunde und Latein und in der 12. Klasse Mathematik, was sich in guten bis sehr guten Noten äußerte.

Was mir den Unterricht in Gera verleitete, war die permanente und stetig zunehmende politische Indoktrination. Es war der in bestimmten, vor allem gesellschaftspolitisch relevanten Fächern immer wieder an den Horizont gezeichnete „Silberstreif“ des Sozialismus mit dem Endziel des Kommunismus; beide wurden bekanntermaßen nie auch nur annähernd erreicht und erwiesen sich letzten Endes als Utopie. Betroffen waren vor allem Geschichte, Gegenwartskunde, Deutsch, Russisch und in der 12. Klasse auch Biologie. Die Einseitigkeit der Lehre, das ständig geforderte persönliche politische Bekenntnis zum Sozialismus, zum Staat und seinen „Organen“ sowie zur Sowjetunion und der Kult um den Diktator Stalin, besonders aber auch das völlige Fehlen jeglicher christlichen Erziehung, erschwerten uns das Leben und Lernen in zunehmendem Maße.

Wenn uns der Biologe in Systemtreue die „Weisheiten“ Darwins und Haeckels sowie der russisch-sowjetischen Botaniker Mitschurin und Lyssenko nahe zu bringen versuchte, oder der Lehrer in Gegenwartskunde die angeblich „friedliche“ Entwicklung der DDR unter sozialistischen Verhältnissen in den Vordergrund stellte und den Kommunismus pries, wenn im Fach Deutsch hauptsächlich Produkte des sozialistischen Realismus russischer oder deutscher Prägung gelesen und besprochen wurden und in Geschichte die Revolutionen, insbesondere die Oktoberrevolution in Russland und die Geschichte des „großen vaterländischen Krieges“ im Mittelpunkt des Unterrichts standen, dann strapazierte das alles zwar schon unsere Ohren, vor allem aber unsere Seelen. Wir mussten ständig zwei „Gesichter“ zeigen, eines in scheinbarer Treue zum Gesellschaftssystem und in unbeobachteten Momenten unser tatsächliches Empfinden. Das erstere musste nicht nur in unseren mündlichen „Bekenntnissen“ im Unterricht zum Ausdruck gebracht werden, sondern auch in den Aufsätzen, die wir mit entsprechender Thematik zu schreiben hatten.

In den Jahren 1952, besonders aber 1953 brach in Schule und Medien, gefördert durch die Staatsorgane, eine Hetzkampagne unvorstellbaren Ausmaßes aus. Sie war vor allem auf die „Junge Gemeinde“ gerichtet, eine Jugendgruppe der evangelischen Landeskirche, die offensichtlich beobachtet und kontrolliert wurde. Einbezogen war da auch die Jugendgruppe der Freien evangelischen Gemeinde in Hermsdorf, der ich angehörte.

Dazu ein erneutes Zitat aus der bereits genannten Festschrift, S. 68:

„... Im Laufe des Jahres 1952 und insbesondere im Jahre 1953 auf dem Höhepunkt des Stalinismus,“ und anlässlich „seines Todes am 05.03.53, setzte eine regelrechte Hetzjagd auf die Mitglieder der Jungen Gemeinde ein. Sie wurde gesteuert von den FDJ- und SED -Organen und bezichtigte allen Ernstes diese jungen christlichen Leute, als ausgebildete und verhetzte Agenten amerikanischer, englischer und französischer sowie westdeutscher Geheimdienste tätig zu sein. Das Lesen eines Artikels in der damaligen ’Volkswacht‘ im Frühjahr 1953 erinnert fatal an die Freisler - Hetztiraden gegen die Widerständler des 20. Juli 1944. Uns erscheint aus heutiger Sicht die damalige Diktion so absurd, dass es unglaubhaft erscheint, dass auch nur ein denkender Mensch diese Berichterstattung für objektiv und wahr hat halten können“.

Hier nun einige Sätze aus diesem Artikel der ehemaligen Regionalzeitung „Volkswacht“, der unter der Überschrift: „Die ’religiöse‘ Rolle der Jungen Gemeinde“ am 18. Mai 1953, einen Tag nach meiner Flucht, erschien (s. Festschrift, S. 39):

„Nicht erst seit gestern treibt die religiös getarnte "Junge Gemeinde" ihr verräterisches Spiel. Aus allen Teilen unserer Republik erfahren unsere friedlich schaffenden Werktätigen von den Umtrieben der illegalen "Jungen Gemeinde". Der christliche Glaube vieler junger Menschen wird durch die religiöse Maske dieser von amerikanischen Agenten angeleiteten Terrororganisation dazu missbraucht, um gegen unsere Deutsche Demokratische Republik zu hetzen und sogar zur offenen Sabotage zu schreiten...“

Warum ich Hermsdorf verlassen musste

Was von März bis Mai 1953 an unliebsamen Ereignissen geschah, war für uns Schüler nur schwer zu ertragen. Zwei Mitschüler und ich trugen an unserer Schulkleidung im Frühjahr 1953 eine Zeitlang ein christliches Abzeichen, wie es in den Kreisen von Jugendlichen der Freien evangelischen Gemeinden (FeG) damals üblich war. Hatte die „Junge Gemeinde“ der Landeskirche als Abzeichen einen Kreis mit einem Kreuz darauf, so war das Abzeichen der Jugend der FeG ein Kreis mit einem Kreuz darin.

  • Offensichtlich wegen des Tragens dieser Abzeichen wurden eines Tages die zwei Mitschüler und ich vom Geschichtslehrer Gruper in ein eigenes Zimmer zu einer Befragung bestellt. Wir wurden dort nach unserer christlichen Einstellung und nach unserem Verhältnis zum Staat und zur Friedensliebe ausgefragt. Unsere mangelhafte sozialistisch-gesellschaftliche Einstellung war ihm damals vermutlich bekannt.

    Dazu zitiere ich aus der o. g, Festschrift, Seite 38:Hauptzielgruppe der ideologischen Angriffe der Partei und FDJ waren die Mitglieder der ‚Jungen Gemeinde‘. Ihnen wurden Verbindungen zum Klassenfeind, Verbreitung von Pessimismus und Verbindung zu Agentenzentralen vorgeworfen. Die Tatsache, dass im Jahr 1953 Schüler und sogar Abiturienten nach erfolgreich abgelegten Prüfungen die Schule ohne Abschluss verlassen mussten, spielt in den Begegnungen und Gesprächen dieser Jahrgänge auch heute eine wichtige Rolle.“
    Genau dies trifft auch auf mich zu, habe ich doch auch die Oberschule mitten im Abitur und damit ohne Abschluss verlassen müssen. Der eigentlich Angriff auf meine Person folgte aber erst noch.

  • Im März 1953 wurden nacheinander zwei Schülervollversammlungen in die Aula der Oberschule I einberufen.
    Die erste fand wohl nach Bekanntwerden des Todes von Stalin (05.03.1953) statt; vorn über dem Rednerpult hing sein großes Portrait. Rektor Fischer hielt eine flammende Rede, deren Inhalt sich auf den Tod Stalins bezog. Fischer wandte sich dabei dem Bilde zu und schwor Stalin ewige Treue, revolutionäre Gesinnung und... und... und.... Seine Gebärden und seine Wortwahl glichen wahrhaft einer Anbetung.

    Die
    erste Versammlung fand wenig später statt und verfolgte das Ziel, meine beiden Mitschüler und mich, die wir vom Geschichtslehrer Gruper befragt worden waren, als angebliche Mitglieder der „Jungen Gemeinde“ an den Pranger zu stellen. Hier tat sich Gruper besonders hervor, wobei ihn Rektor Fischer auch noch kräftig unterstützte. Ich war so verwirrt, dass ich kaum wusste, wie mir geschah und was man da im einzelnen behauptete. Wir wurden vor ca. 600 Schülern nicht nur namentlich genannt, sondern auch wegen unserer negativen gesellschaftspolitischen Einstellung getadelt, ja angefeindet. Bekannte Schlagworte prasselten auf uns herab. Konsequenzen, wie die Entfernung aus der Schule, folgten jedoch nicht. Sicher ist, dass wir für Kommendes mürbe gemacht werden sollten.

  • Die schriftlichen Abiturprüfungen begannen etwa nach Mitte April. Ich kann mich nur noch an die schriftliche Arbeit in Physik erinnern, an der ich gegen Ende April teilnahm. Das Thema beschäftigte sich mit der Audionschaltung und der Kathodenstrahlröhre, Bauteil eines einfachen Rundfunkempfängers. Ich konnte das Thema gut bearbeiten. Doch mitten in dieser Arbeit, am späteren Vormittag, ging die Türe zum Klassenraum auf, in dem wir schrieben, und unsere Klassenlehrerin, Frau Förster, erschien. Sie trat nur wenige Schritte ein und verkündete laut über alle Prüflinge hinweg, ich möchte mich heute um 14.00 Uhr bei einer nahe gelegenen Polizeidienststelle in der Humboldtstraße einfinden. Danach verschwand sie, wie sie gekommen war. Ich weiß heute nicht mehr, ob ich die Arbeit beenden konnte. Auf jeden Fall war ich innerlich außerordentlich erregt, und ich grübelte, was man wohl von mir wolle.

Um 14.00 Uhr erschien ich in dieser Dienstelle und wurde auf ein bestimmtes Zimmer geführt. Darin befanden sich 3 männliche Personen und, wie ich heute meine, nicht in Uniform, also vom Staatssicherheitsdienst (SSD).

Zunächst erfolgte eine Befragung zu meiner Person. Die Fragen wurden so listig gestellt, dass ich eigentlich immer nur mit „ja“ antworten konnte, z.B. “Sie sind doch für den Frieden?“ und „Sie wollen doch auch, dass in Ihrer christlichen Gemeinde Frieden herrscht?“ Ich wüsste doch sicher, dass sich unter dem christlichen Deckmantel subversive Kräfte, aus der BRD kommend, einschlichen und das friedliche Zusammenleben in den Gemeinden stören würden. Allmählich wurden sie deutlicher, und mir wurde angst und bange. Nun kamen sie mit ihrem Anliegen heraus. Sie meinten, die friedliebenden Kräfte müssten dann doch sehr aufpassen und beobachten, damit solch negative Einflüsse auf Gemeinde, Gesellschaft und Staat unterblieben. Dann wäre es doch wohl folgerichtig, wenn ich ihnen helfen würde und mich zu einem Aufklärungsdienst in der Freien evangelischen Gemeinde in Hermsdorf und Umgebung verpflichtete. Dann folgte der Hinweis: „Wenn Sie das tun, dann hätten Sie Ihr Abiturzeugnis in der Tasche und dürften auch studieren“.

Diese Prozedur dauerte etwa 3 Stunden, denn ich habe ja nicht immer sofort „ja“ gesagt, sondern wiederholt versucht, meinen „Kopf aus der Schlinge“ zu ziehen. Ich merkte aber, dass ich mich in einer aussichtslosen Lage befand. – Ich unterschrieb dann unter diesem Druck eine Verpflichtung, die beinhaltete, Berichte über Mitglieder der Freien evangelischen Gemeinde Hermsdorf zu liefern. – Danach war ich völlig beunruhigt, ich wusste nicht, wie mir geschehen war. Es war mir aber sofort klar, dass ich dem Ersuchen des SSD nicht folgen konnte. Ich war im übrigen verpflichtet worden, über diese Affäre Stillschweigen zu bewahren.

Das Ganze trug sich wohl Ende April 1953 zu, denn ich habe Anfang Mai, dem Auftrag der Stasi folgend, einen ausführlichen und wahrheitsgemäßen Bericht über einen Gottesdienst im Walde nahe der „Kreuzstraße“ geschrieben. Nach 14 Tagen war ein Treffen mit der Stasi in der Geraer „Humboldtklause“ vereinbart, wo mich ein Agent im Ledermantel empfing und zu einem Essen einlud. Ich gab ihm den Bericht. Er las ihn und sagte nachdrücklich: So haben wir uns das nicht vorgestellt!“. – Ich weiß heute nicht mehr, wann wir uns wieder treffen wollten. – Mich hat er jedenfalls nie mehr gesehen. Es war nach dieser seiner Äußerung klar, dass ich nunmehr nicht in der „DDR“ bleiben konnte, wollte ich nicht Unwahrheiten über einzelne Personen erfinden, wie das so viele Spitzel taten.

Was nun geschah, deckt sich genau mit einem Ereignis, das Frau Renate Lampe, Abiturjahrgang 1954, auf Seite 56 der genannten Festschrift beschreibt. Sie schildert ihr eigenes Ergehen und das einer Mitschülerin der Oberschule 1 in einer Versammlung 1953, zu der nur Mitglieder der „Jungen Gemeinde“ zusammengerufen wurden, um ein Papier zu unterschreiben. Sie sollten sich verpflichten, die Veranstaltungen der „Jungen Gemeinde“ nicht mehr zu besuchen. Im Weigerungsfalle drohte man mit dem Verweis von der Schule und mit dem Ausschluss vom Abitur. Die Schülerin unterschrieb nicht und musste noch am gleichen Abend die „DDR“ verlassen. – Das stand nun auch mir bevor.

Meine Flucht

Mit meinem einzigen Anzug (aus Zellstoff) bekleidet und einer Aktentasche in der Hand, verließ ich am Samstag, den 16.05.1953, spätnachmittags mein Elternhaus und ging zum Bahnhof, ohne mich von meinen Angehörigen auf lange Zeit zu verabschieden. Sie sollten bei einem eventuellen Verhör durch ihr Nichtwissen geschützt sein. Nach einer Übernachtung in Gera fuhr ich am 17.05.1953 mit dem Zug über Leipzig nach Ostberlin.

Alles verlief nach einem wohlüberlegten Fluchtplan, der mir dann auch half, als der Zug in Schönefeld, unmittelbar vor der Grenze zu Ostberlin, stoppte und eine Polizistin nach meinem Woher und Wohin fragte und ob ich am Montag schulfrei hätte. Ich bejahte dies und nach meiner Versicherung, ich wolle zur Humboldt-Universität in Ostberlin reisen, um mich dort nach Studienmöglichkeiten zu erkundigen, zeigte sie sich zufrieden.

Von Bekannten in Berlin-Adlershof (Ostsektor) bekam ich ein Mittagessen und den weiteren Fluchtweg mit der S-Bahn über Ostkreuz nach Gesundbrunnen (Westsektor) genannt. An der Sektorengrenze gab es keine Kontrolle! In Gesundbrunnen verließ ich erleichtert die Bahn.

In Westberlin wurde mir von Mitgliedern der dortigen Freien evangelischen Gemeinde weitergeholfen. In der Zeit vom 18. bis 21.05.1953 musste ich im Rahmen des erforderlichen Notaufnahmeverfahrens, mit Unterkunft in einem Jugendheim in der Heerstraße, insgesamt 14 Dienststellen durchlaufen, bis ich nach 2 Wochen vom Flughafen Tempelhof nach Hannover-Langenhagen ins Bundesgebiet ausgeflogen wurde.

Ich möchte hier einfügen, dass ich während meines Schulbesuchs in der „DDR“ zu keiner Zeit an ein Überwechseln ins Bundesgebiet auch nur im entferntesten gedacht hatte. Allein durch die druckvollen Aktivitäten der Staatsorgane und der Schule in Gera wurde ich gleichsam dazu gezwungen. Ich verfügte über keinerlei Verwandtschaft oder Bekanntschaft in der Bundesrepublik, war also erstmalig in meinem Leben ganz auf mich selbst gestellt.

Die Anerkennung meiner Fluchtgründe findet sich in meiner Aufenthaltserlaubnis:

„Der Leiter des Aufnahmeverfahrens und Beauftragte der Bundesregierung im Notaufnahmelager Uelzen (Jugendlager Sandbostel), Aufnahmeausschuss...“ stellte am 09. Juli 1954 u.a. fest:

„Nach dem Sachverhalt hat sich der Antragsteller zweifellos in einer durch die politischen Verhältnisse in der sowjetischen Besatzungszone („DDR“) bedingten und auch von ihm nicht zu vertretenden besonderen Zwangslage befunden. In diese war er wegen seiner das kommunistische System ablehnenden Haltung und wegen seiner Zugehörigkeit zur "Jungen Gemeinde" gekommen, auf Grund dessen ihm erst die Spitzelverpflichtung durch den SSD abgenötigt worden ist. Die Zugehörigkeit zu dieser "Jungen Gemeinde" kann ihm nicht angelastet werden. Denn gerade diese bildet ein wertvolles Gegengewicht zu dem in der sowjetischen Besatzungszone herrschenden politischen Druck und Terror. Um sich der Spitzelverpflichtung zu entziehen – Nichtausführung der Aufträge hätte ihn gefährdet – blieb dem Antragsteller nur der Weg der Flucht.“ –

In der Bundesrepublik Deutschland

Mit einem Bus wurden wir in der Nacht von Hannover-Langenhagen ins Jugendlager Sandbostel bei Bremervörde gefahren. Dort waren männliche, jugendliche Flüchtlinge aus der „DDR“ untergebracht und warteten darauf, zu Verwandten und / oder an eine Schule oder berufliche Ausbildungsstätte vermittelt zu werden. Erst im Jahre 2004 erfuhr ich durch einen Fernsehbeitrag, dass dieses Jugendlager eines der vielen Konzentrationslager der Nazizeit war (!).

Jeder Jugendliche wurde hier von Berufsberatern nach seinen Zielen befragt und eingehend beraten. Auf meine Bemerkung, dass mich Schule und Abitur nicht mehr interessierten, legte er mir eindringlich nahe, auf das Abitur nicht zu verzichten. In Nordrhein-Westfalen solle noch im Herbst 1953 ein Förderkurs für ehemalige Oberschüler aus der „DDR“ beginnen, der zum Abitur führe. Ich bin im nachhinein sehr dankbar für diese Mitteilung.

Ungefähr 14 Tagen später nahm ich an einem neunwöchigen freiwilligen Arbeitseinsatz im Grenzdurchgangslager Friedland/Leine teil. Aus dem Radio erfuhren wir dort am 17.06.1953 von den Streiks und Demonstrationen in den Städten der „DDR“, was uns mit großer Hoffnung auf eine Systemänderung erfüllte. Ich verließ Friedland um den 19.08.1953 und kehrte nach Sandbostel zurück.

Ab Mitte September verbrachte ich noch sechs Wochen als Pfleger bei Schwerbehinderten im Haus „Megiddo“ in Eckardtsheim, das zu den von Bodelschwingh’schen Anstalten Bethel bei Bielefeld gehört, für freie Unterkunft und Verpflegung. Schließlich reiste ich am 10.11.1953 mit der Bahn an meinen nächsten Bestimmungsort, Petershagen a. d. Weser, wo der Förderkurs beginnen sollte. Wir ehemaligen Oberschüler aus der „DDR“ wurden dort privat untergebracht und bekamen ein monatliches Stipendium von 116 DM (!). Weil die Vollpension 100 DM kostete, blieben uns für alle anderen Ausgaben nur 16 DM.

Unterrichtet wurden wir in der „Staatlichen Oberschule für Jungen in Aufbauform". Am 23.03.1955, nach einem Jahr und gut vier Monaten Förderkurs, erhielt ich mein Abiturzeugnis ausgehändigt.

In den Ferienzeiten versuchte ich stets, etwas Geld zu verdienen. So pflanzte ich im Frühjahr 1954 mit einem Mitschüler in den nahe gelegenen Waldungen „Heisterholz“, auf einer großen Kahlfläche, 30 000 Kiefernsämlinge. Und in den großen Ferien 1954 arbeitete ich 3 Wochen in der Ziegelei in Heisterholz am Fließband.

Ende März 1955 fuhr ich per Anhalter nach Freiburg im Breisgau, um dort an der Albert-Ludwigs-Universität ein Studium zu beginnen. Vor Semesterbeginn arbeitete ich hier noch drei Wochen auf dem städtischen Hauptfriedhof.

Zunächst schrieb ich mich für die unterschiedlichsten naturwissenschaftlichen Fächer ein, vollendete das Studium aber dann mit Bodenkunde als Hauptfach und Geographie sowie Geologie als Nebenfächer mit der Promotion zum „Dr. rer. nat.“ am 10.05.1962 mit einer Arbeit „Beziehungen zwischen Böden und Landschaft in der Emmendinger Vorbergzone“.

In den ersten Semestern bekam ich ein Stipendium und vom 01.09.1958 - 30.05.1962 hatte ich am Institut für Bodenkunde eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft inne. In den Semesterferien arbeitete ich dreimal je vier Wochen auf dem Bau in Basel und danach noch einmal drei Wochen in einer Ziegelei in Freiburg. Vom November 1957 bis August 1958 wirkte ich als freier Mitarbeiter im Verlag Herder in Freiburg am „Großen Herder Atlas“ mit.

Am 01.06.1962 ernannte man mich am Institut für Bodenkunde der Forstwissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg i.Br. zum wissenschaftlichen Assistenten. Am 01.06.1968 wurde die Assistentenstelle in eine wissenschaftliche Angestelltenstelle umgewandelt, die ich bis zum 01.09.1970 behielt. Am 02.09.1970 erfolgte unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit die Ernennung zum Akademischen Rat und am 01.09.1971 zum Akademischen Oberrat. Aus dieser Position wurde ich mit Wirkung vom 31.12.1996 in den Ruhestand versetzt.

An diesem Institut oblagen mir sehr interessante, vielfältige, überwiegend selbständige Tätigkeitsbereiche. Meine Hauptarbeitsgebiete erstreckten sich – wie an einer Universität üblich – auf wissenschaftliche Forschung und Lehre. Die Forschung umfasste vor allem Bodenphysik, Geochemie der oberrheinischen Lösse, Regionale Bodenkunde und Bodenkartierung. Dazu waren auch Arbeiten in Labor und Gelände erforderlich. Mein Publikationsverzeichnis umfasst ca. 60 Arbeiten, darunter finden sich auch mehrere Bücher, an denen ich mitgewirkt habe, z.B. „R. Ganssen und F. Hädrich: (Welt-)Atlas zur Bodenkunde“ (1965). Die Lehre bestand seit 1962 in Vorlesungen, Seminaren, Geländeübungen, Kartierpraktika und Exkursionen. Anvertraut waren mir dabei Studenten der Forstwissenschaft, Biologie, Hydrologie, Geographie und Geologie. Nicht unerheblichen Anteil nahmen auch die Arbeiten innerhalb der Institutsverwaltung ein, einschließlich der Institutsbibliothek. Von 1968 bis 1996 gab ich die Schriftenreihe des Instituts „Freiburger Bodenkundliche Abhandlungen“ heraus, insgesamt 36 Hefte.

Seit dem 19.12.1957 bin ich verheiratet und habe mit meiner Frau Renate zwei Söhne, Johannes und Thomas. Nach insgesamt 17 Jahren in Freiburg i.Br. bezogen wir 1972 unser eigenes Haus in Kirchzarten/Schwarzwald.

Seit 1956 habe ich durch Besuche bei meinen Eltern, bei Freunden und Schulkameraden sowie in der Freien evangelischen Gemeinde diese mir so wertvollen Beziehungen gepflegt und weiter gefestigt. Auch weiterhin bin ich meinem Elternhaus in Hermsdorf, Heinrich-Heine-Str. 3, sehr verbunden, in dem heute noch meine Schwester Ruth wohnt. Am 15.05.1999 habe ich am Treffen „50 Jahre Schulentlassung“ der ehemaligen Grundschulklassen 8 K und 8 M teilgenommen. Ich habe die positive Entwicklung Hermsdorfs während der vergangenen 1 ½ Jahrzehnte stets mitverfolgt, hat mir doch meine Schwester Ruth seit Jahren regelmäßig Zeitungsausschnitte zukommen lassen. Ich bin begeistert, wie sich das Bild von Hermsdorf und auch die Versorgungslage seit der Wende gewandelt und verbessert haben.

Wenn ich zurückblicke, dann danke ich Gott, meinem Schöpfer, für das gnädige Hindurchtragen durch mein wechselvolles und auch nicht immer ungefährliches Leben. Hatte ich das Verlassen der „DDR“ zunächst als ein großes Unglück angesehen, so erkenne ich nun Gottes wunderbaren Plan für mich und meine Familie.

Mit freundlicher Unterstützung meines Sohnes Dr. Johannes Hädrich, Stegen und meines Freundes Hans-Joachim Gräfe, Hermsdorf.  Ihnen gilt mein besonderer Dank!

Dr. Friedhelm Hädrich
D-79199 Kirchzarten, den 16. Februar 2005


[1] Körnerstraße bis 16.07.1945 - Heinrich-Heine-Straße ab 16.07.1945

[2]
Raudenbach = der durch Hermsdorf führende Raudenbach, in Höhe des heutigen Festplatzes am Rathaus damals noch nicht verrohrt,  
Tunnel = zu dieser Zeit war der Raudenbach noch nicht wie heute vertunnelt. 1953 lag der Beginn der Aufschüttung in Höhe der Körnerstraße (Schillerstraße). Die bereits vorhandene Rohranlage wurde "Tunnel" genannt. Die weiterer Verrohrung (heutiger Festplatz am Rathaus) erfolgte Mitte der 60er Jahre. 
Teiche = Forellenteiche in der Nähe der Bahnlinie Gera-Weimar (Unterführung nach Bad Klosterlausnitz),
Wald = das „alte“ Hermsdorf war von sehr viel Wald umgeben, dieser reichte damals noch bis an den Bahnhof,
Buchborn = Quelle die unmittelbar in den Raudenbach fließt, früheres Kleinod, heute unbedeutendes Edelstahlrohr.

[3] Bäckerei Friedrich Stöbe, damals Bahnhofstrasse 25 (heute Eisenberger Strasse)

[4] siehe Klassenfotos Klassenjahrgang 1941 - 1949 Foto: 1948 Chemie- / Physikraum (Nr. 23) und Foto: 1949 (Nr. 25)

[5] mit der Wiedereröffnung nach Neubau (09.04.1945 durch Bombenangriffe indirekt in Brand geraten und niedergebrannt) am 15.10.1949 Namensgebung „Friedensschule“