Kindheit und Jugendjahre
Am 15.12.1934 wurde ich als Sohn des Reisevertreters Albert
Hädrich und seiner Ehefrau Dora geb. Steudel in Hermsdorf geboren. Mein
Vater stammte aus Reichenbach in Thüringen und meine Mutter aus Döbeln
in Sachsen.
Mit Mutter, Schwester und zwei Großmüttern
erlebte ich eine behütete Kindheit. Wir hatten ein eigenes Haus mit
Garten. Allerdings vermisste ich meinen Vater sehr, der von 1940 - 1946
Kriegsdienst (mit 1 Jahr Gefangenschaft) leisten musste. Die Versorgungslage
wurde im Laufe des 2. Weltkrieges zunehmend schlechter und erholte sich
bis zu meinem Weggang aus Hermsdorf 1953 nur sehr langsam. Durch Obst,
Beeren und Gemüse aus dem großen Garten ging es uns aber noch erträglich.
Ich hatte im Hermsdorfer Nordosten ein sehr großes Spielrevier, Körnerstrasse [1]- Schillerstraße und Wielandstrasse, sowie Raudenbach,
Tunnel, Teiche, Wald, Buchborn [2] usw. und ausreichend Spielkameraden. Leider musste ich
aber in vielen Dingen schon sehr früh meinen Vater vertreten, z.B. beim
Anfahren und Zurichten des Brennholzes (Sägen, Hacken und Aufschichten
lernte ich bald) oder beim Tragen der großen kreisrunden Kuchen, die
bis zum Bäcker Stöbe [3] oder später zur Konsumbäckerei ihr Gewicht hatten.
Von September 1941 bis Juli 1949 [4] besuchte ich zunächst die achtklassige Grundschule in
Hermsdorf, später Friedensschule [5] genannt. Zwei hervorragende Lehrer werden wegen
ihrer Güte und ihres pädagogischen Geschicks von mir besonders wertgeachtet,
Karl Jahn und Günter Diezel. Lehrer Jahn wurde als Altlehrer noch während
der fünften Klasse, gegen Ende 1945, leider in den Ruhestand versetzt.
Wegen meiner guten schulischen Leistungen empfahl Lehrer Diezel im Gespräch
mit meinem Vater den Besuch der Oberschule. Dies war aber offensichtlich
gar nicht so einfach. Um das zu verdeutlichen, habe ich der Festschrift
„110 Jahre Zabel-Gymnasium Gera – 1889-1999“ (hrsg.
vom Zabel-Gymnasium Gera 1999), Seite 67, folgende Passage entnommen:
„1949
nach Abschluss der Grundschule erfolgte die Delegation aus den Grundschulen
zum weiteren Besuch der Oberschule. Der Vorgang der Delegation war eine
absolut politische Entscheidungsangelegenheit. Wer nicht mindestens
der FDJ angehörte oder zumindest Arbeiter- und Bauernabkömmling war,
hatte trotz eines insgesamt ‚sehr guten‘ Zeugnisses kaum
eine Chance, die höheren Weihen der sozialistischen Schulbildung zu erhalten“.
Da ich ein Arbeiterkind war, wurde ich wohl nur deshalb zur
Oberschule zugelassen. So verbrachte ich 1949/1950 das neunte Schuljahr
in der Oberschule in Hermsdorf. Die gesellschafts-politische Beeinflussung
durch die Schule war in diesem Jahre noch relativ gering.
Von September 1950 bis einschließlich Januar 1951 war ich,
wie auch einige andere auswärtige Schüler, der Oberschule in Gera-Untermhaus
zugeteilt und ab Februar 1951 bis Mai 1953 der „Geraer Oberschule
I“, seit 1993 „Zabel-Gymnasium Gera“ genannt. Mein
Schulziel war die allgemeine Hochschulreife (Abitur) und auf weitere
Sicht das Studium der Chemie; dieses Fach war eines meiner Lieblingsfächer.
Dazu hatten die Lehrer Queißner in Hermsdorf und Sauter in Gera maßgeblich
beigetragen. In der Geraer Oberschule begeisterten mich auch die Fächer
Biologie, Erdkunde und Latein und in der 12. Klasse Mathematik, was
sich in guten bis sehr guten Noten äußerte.
Was mir den Unterricht in Gera verleitete, war die permanente
und stetig zunehmende politische Indoktrination. Es war der in bestimmten,
vor allem gesellschaftspolitisch relevanten Fächern immer wieder an
den Horizont gezeichnete „Silberstreif“ des Sozialismus
mit dem Endziel des Kommunismus; beide wurden bekanntermaßen nie auch
nur annähernd erreicht und erwiesen sich letzten Endes als Utopie. Betroffen
waren vor allem Geschichte, Gegenwartskunde, Deutsch, Russisch
und in der 12. Klasse auch Biologie. Die Einseitigkeit der Lehre, das
ständig geforderte persönliche politische Bekenntnis zum Sozialismus,
zum Staat und seinen „Organen“ sowie zur Sowjetunion und
der Kult um den Diktator Stalin, besonders aber auch das völlige Fehlen
jeglicher christlichen Erziehung, erschwerten uns das Leben und Lernen
in zunehmendem Maße.
Wenn uns der Biologe in Systemtreue die „Weisheiten“
Darwins und Haeckels sowie der russisch-sowjetischen Botaniker
Mitschurin und Lyssenko nahe zu bringen versuchte, oder der Lehrer in Gegenwartskunde die angeblich „friedliche“ Entwicklung
der DDR unter sozialistischen Verhältnissen in den Vordergrund stellte
und den Kommunismus pries, wenn im Fach Deutsch hauptsächlich
Produkte des sozialistischen Realismus russischer oder deutscher Prägung
gelesen und besprochen wurden und in Geschichte die Revolutionen,
insbesondere die Oktoberrevolution in Russland und die Geschichte des
„großen vaterländischen Krieges“ im Mittelpunkt des Unterrichts
standen, dann strapazierte das alles zwar schon unsere Ohren, vor allem
aber unsere Seelen. Wir mussten ständig zwei „Gesichter“
zeigen, eines in scheinbarer Treue zum Gesellschaftssystem und in unbeobachteten
Momenten unser tatsächliches Empfinden. Das erstere musste nicht nur
in unseren mündlichen „Bekenntnissen“ im Unterricht zum
Ausdruck gebracht werden, sondern auch in den Aufsätzen, die wir mit
entsprechender Thematik zu schreiben hatten.
In den Jahren 1952, besonders aber 1953 brach in Schule und
Medien, gefördert durch die Staatsorgane, eine Hetzkampagne unvorstellbaren
Ausmaßes aus. Sie war vor allem auf die „Junge Gemeinde“
gerichtet, eine Jugendgruppe der evangelischen Landeskirche, die offensichtlich
beobachtet und kontrolliert wurde. Einbezogen war da auch die Jugendgruppe
der Freien evangelischen Gemeinde in Hermsdorf, der ich angehörte.
Dazu ein erneutes Zitat aus der bereits genannten Festschrift,
S. 68:
„... Im Laufe des Jahres 1952 und insbesondere im Jahre 1953 auf dem Höhepunkt
des Stalinismus,“ und anlässlich „seines Todes am 05.03.53, setzte
eine regelrechte Hetzjagd auf die Mitglieder der Jungen Gemeinde ein.
Sie wurde gesteuert von den FDJ- und SED -Organen und bezichtigte allen
Ernstes diese jungen christlichen Leute, als ausgebildete und verhetzte
Agenten amerikanischer, englischer und französischer sowie westdeutscher
Geheimdienste tätig zu sein. Das Lesen eines Artikels in der damaligen
’Volkswacht‘ im Frühjahr 1953 erinnert fatal an die Freisler
- Hetztiraden gegen die Widerständler des 20. Juli 1944. Uns erscheint
aus heutiger Sicht die damalige Diktion so absurd, dass es unglaubhaft
erscheint, dass auch nur ein denkender Mensch diese Berichterstattung
für objektiv und wahr hat halten können“.
Hier nun einige Sätze aus diesem Artikel der ehemaligen Regionalzeitung
„Volkswacht“, der unter der Überschrift: „Die ’religiöse‘
Rolle der Jungen Gemeinde“ am 18. Mai 1953, einen Tag nach meiner
Flucht, erschien (s. Festschrift, S. 39):
„Nicht erst seit gestern treibt die religiös getarnte
"Junge Gemeinde" ihr verräterisches Spiel. Aus allen Teilen
unserer Republik erfahren unsere friedlich schaffenden Werktätigen von
den Umtrieben der illegalen "Jungen Gemeinde". Der christliche
Glaube vieler junger Menschen wird durch die religiöse Maske dieser
von amerikanischen Agenten angeleiteten Terrororganisation dazu missbraucht,
um gegen unsere Deutsche Demokratische Republik zu hetzen und sogar
zur offenen Sabotage zu schreiten...“
Warum ich Hermsdorf verlassen musste
Was von März bis Mai 1953 an unliebsamen Ereignissen geschah,
war für uns Schüler nur schwer zu ertragen. Zwei Mitschüler und ich
trugen an unserer Schulkleidung im Frühjahr 1953 eine Zeitlang ein christliches
Abzeichen, wie es in den Kreisen von Jugendlichen der Freien evangelischen
Gemeinden (FeG) damals üblich war. Hatte die „Junge Gemeinde“
der Landeskirche als Abzeichen einen Kreis mit einem Kreuz darauf,
so war das Abzeichen der Jugend der FeG ein Kreis mit einem Kreuz darin.
- Offensichtlich
wegen des Tragens dieser Abzeichen wurden eines Tages die zwei Mitschüler
und ich vom Geschichtslehrer Gruper in ein eigenes Zimmer zu einer
Befragung bestellt. Wir wurden dort nach unserer christlichen Einstellung
und nach unserem Verhältnis zum Staat und zur Friedensliebe ausgefragt.
Unsere mangelhafte sozialistisch-gesellschaftliche Einstellung war
ihm damals vermutlich bekannt.
Dazu
zitiere ich aus der o. g, Festschrift, Seite 38: „Hauptzielgruppe der ideologischen Angriffe der Partei und FDJ waren die Mitglieder
der ‚Jungen Gemeinde‘. Ihnen wurden Verbindungen zum Klassenfeind,
Verbreitung von Pessimismus und Verbindung zu Agentenzentralen vorgeworfen.
Die Tatsache, dass im Jahr 1953 Schüler und sogar Abiturienten nach
erfolgreich abgelegten Prüfungen die Schule ohne Abschluss verlassen
mussten, spielt in den Begegnungen und Gesprächen dieser Jahrgänge
auch heute eine wichtige Rolle.“
Genau
dies trifft auch auf mich zu, habe ich doch auch die Oberschule mitten
im Abitur und damit ohne Abschluss verlassen müssen. Der eigentlich
Angriff auf meine Person folgte aber erst noch.
- Im
März 1953 wurden nacheinander zwei Schülervollversammlungen in die Aula der Oberschule I einberufen.
Die erste fand wohl nach Bekanntwerden des Todes von Stalin (05.03.1953)
statt; vorn über dem Rednerpult hing sein großes Portrait. Rektor
Fischer hielt eine flammende Rede, deren Inhalt sich auf den Tod Stalins
bezog. Fischer wandte sich dabei dem Bilde zu und schwor Stalin ewige
Treue, revolutionäre Gesinnung und... und... und.... Seine Gebärden
und seine Wortwahl glichen wahrhaft einer Anbetung.
Die erste Versammlung fand wenig später statt und verfolgte das
Ziel, meine beiden Mitschüler und mich, die wir vom Geschichtslehrer
Gruper befragt worden waren, als angebliche Mitglieder der „Jungen
Gemeinde“ an den Pranger zu stellen. Hier tat sich Gruper besonders
hervor, wobei ihn Rektor Fischer auch noch kräftig unterstützte. Ich
war so verwirrt, dass ich kaum wusste, wie mir geschah und was man
da im einzelnen behauptete. Wir wurden vor ca. 600 Schülern nicht
nur namentlich genannt, sondern auch wegen unserer negativen gesellschaftspolitischen
Einstellung getadelt, ja angefeindet. Bekannte Schlagworte prasselten
auf uns herab. Konsequenzen, wie die Entfernung aus der Schule, folgten
jedoch nicht. Sicher ist, dass wir für Kommendes mürbe gemacht werden
sollten.
- Die
schriftlichen Abiturprüfungen begannen etwa nach Mitte April. Ich
kann mich nur noch an die schriftliche Arbeit in Physik erinnern,
an der ich gegen Ende April teilnahm. Das Thema beschäftigte sich
mit der Audionschaltung und der Kathodenstrahlröhre, Bauteil eines
einfachen Rundfunkempfängers. Ich konnte das Thema gut bearbeiten.
Doch mitten in dieser Arbeit, am späteren Vormittag, ging die Türe
zum Klassenraum auf, in dem wir schrieben, und unsere Klassenlehrerin,
Frau Förster, erschien. Sie trat nur wenige Schritte ein und verkündete
laut über alle Prüflinge hinweg, ich möchte mich heute um 14.00 Uhr
bei einer nahe gelegenen Polizeidienststelle in der Humboldtstraße
einfinden. Danach verschwand sie, wie sie gekommen war. Ich weiß heute
nicht mehr, ob ich die Arbeit beenden konnte. Auf jeden Fall war ich
innerlich außerordentlich erregt, und ich grübelte, was man wohl von
mir wolle.
Um
14.00 Uhr erschien ich in dieser Dienstelle und wurde auf ein bestimmtes
Zimmer geführt. Darin befanden sich 3 männliche Personen und, wie ich
heute meine, nicht in Uniform, also vom Staatssicherheitsdienst (SSD).
Zunächst
erfolgte eine Befragung zu meiner Person. Die Fragen wurden so listig
gestellt, dass ich eigentlich immer nur mit „ja“ antworten
konnte, z.B. “Sie sind doch für den Frieden?“ und „Sie
wollen doch auch, dass in Ihrer christlichen Gemeinde Frieden herrscht?“
Ich wüsste doch sicher, dass sich unter dem christlichen Deckmantel
subversive Kräfte, aus der BRD kommend, einschlichen und das friedliche
Zusammenleben in den Gemeinden stören würden. Allmählich wurden sie
deutlicher, und mir wurde angst und bange. Nun kamen sie mit ihrem Anliegen
heraus. Sie meinten, die friedliebenden Kräfte müssten dann doch sehr
aufpassen und beobachten, damit solch negative Einflüsse auf Gemeinde,
Gesellschaft und Staat unterblieben. Dann wäre es doch wohl folgerichtig,
wenn ich ihnen helfen würde und mich zu einem Aufklärungsdienst in der
Freien evangelischen Gemeinde in Hermsdorf und Umgebung verpflichtete.
Dann folgte der Hinweis: „Wenn Sie das tun, dann hätten
Sie Ihr Abiturzeugnis in der Tasche und dürften auch studieren“.
Diese
Prozedur dauerte etwa 3 Stunden, denn ich habe ja nicht immer sofort
„ja“ gesagt, sondern wiederholt versucht, meinen „Kopf
aus der Schlinge“ zu ziehen. Ich merkte aber, dass ich mich in
einer aussichtslosen Lage befand. – Ich unterschrieb dann unter
diesem Druck eine Verpflichtung, die beinhaltete, Berichte über Mitglieder
der Freien evangelischen Gemeinde Hermsdorf zu liefern. – Danach
war ich völlig beunruhigt, ich wusste nicht, wie mir geschehen war.
Es war mir aber sofort klar, dass ich dem Ersuchen des SSD nicht folgen
konnte. Ich war im übrigen verpflichtet worden, über diese Affäre Stillschweigen
zu bewahren.
Das
Ganze trug sich wohl Ende April 1953 zu, denn ich habe Anfang Mai, dem
Auftrag der Stasi folgend, einen ausführlichen und wahrheitsgemäßen
Bericht über einen Gottesdienst im Walde nahe der „Kreuzstraße“
geschrieben. Nach 14 Tagen war ein Treffen mit der Stasi in der Geraer
„Humboldtklause“ vereinbart, wo mich ein Agent im Ledermantel
empfing und zu einem Essen einlud. Ich gab ihm den Bericht. Er las ihn
und sagte nachdrücklich: „So haben wir uns das nicht
vorgestellt!“. – Ich weiß heute nicht mehr, wann wir uns
wieder treffen wollten. – Mich hat er jedenfalls nie mehr gesehen.
Es war nach dieser seiner Äußerung klar, dass ich nunmehr nicht in der
„DDR“ bleiben konnte, wollte ich nicht Unwahrheiten über
einzelne Personen erfinden, wie das so viele Spitzel taten.
Was
nun geschah, deckt sich genau mit einem Ereignis, das Frau Renate Lampe,
Abiturjahrgang 1954, auf Seite 56 der genannten Festschrift beschreibt.
Sie schildert ihr eigenes Ergehen und das einer Mitschülerin der Oberschule
1 in einer Versammlung 1953, zu der nur Mitglieder der „Jungen
Gemeinde“ zusammengerufen wurden, um ein Papier zu unterschreiben.
Sie sollten sich verpflichten, die Veranstaltungen der „Jungen
Gemeinde“ nicht mehr zu besuchen. Im Weigerungsfalle drohte man
mit dem Verweis von der Schule und mit dem Ausschluss vom Abitur. Die
Schülerin unterschrieb nicht und musste noch am gleichen Abend die „DDR“
verlassen. – Das stand nun auch mir bevor.
Meine Flucht
Mit
meinem einzigen Anzug (aus Zellstoff) bekleidet und einer Aktentasche
in der Hand, verließ ich am Samstag, den 16.05.1953, spätnachmittags
mein Elternhaus und ging zum Bahnhof, ohne mich von meinen Angehörigen
auf lange Zeit zu verabschieden. Sie sollten bei einem eventuellen Verhör
durch ihr Nichtwissen geschützt sein. Nach einer Übernachtung in Gera
fuhr ich am 17.05.1953 mit dem Zug über Leipzig nach Ostberlin.
Alles
verlief nach einem wohlüberlegten Fluchtplan, der mir dann auch half,
als der Zug in Schönefeld, unmittelbar vor der Grenze zu Ostberlin,
stoppte und eine Polizistin nach meinem Woher und Wohin fragte und ob
ich am Montag schulfrei hätte. Ich bejahte dies und nach meiner Versicherung,
ich wolle zur Humboldt-Universität in Ostberlin reisen, um mich dort nach
Studienmöglichkeiten zu erkundigen, zeigte sie sich zufrieden.
Von
Bekannten in Berlin-Adlershof (Ostsektor) bekam ich ein Mittagessen
und den weiteren Fluchtweg mit der S-Bahn über Ostkreuz nach Gesundbrunnen
(Westsektor) genannt. An der Sektorengrenze gab es keine Kontrolle!
In Gesundbrunnen verließ ich erleichtert die Bahn.
In
Westberlin wurde mir von Mitgliedern der dortigen Freien evangelischen
Gemeinde weitergeholfen. In der Zeit vom 18. bis 21.05.1953 musste ich
im Rahmen des erforderlichen Notaufnahmeverfahrens, mit Unterkunft in
einem Jugendheim in der Heerstraße, insgesamt 14 Dienststellen durchlaufen,
bis ich nach 2 Wochen vom Flughafen Tempelhof nach Hannover-Langenhagen
ins Bundesgebiet ausgeflogen wurde.
Ich
möchte hier einfügen, dass ich während meines Schulbesuchs in der „DDR“
zu keiner Zeit an ein Überwechseln ins Bundesgebiet auch nur im entferntesten
gedacht hatte. Allein durch die druckvollen Aktivitäten der Staatsorgane
und der Schule in Gera wurde ich gleichsam dazu gezwungen. Ich verfügte
über keinerlei Verwandtschaft oder Bekanntschaft in der Bundesrepublik,
war also erstmalig in meinem Leben ganz auf mich selbst gestellt.
Die
Anerkennung meiner Fluchtgründe findet sich in meiner Aufenthaltserlaubnis:
„Der
Leiter des Aufnahmeverfahrens und Beauftragte der Bundesregierung im
Notaufnahmelager Uelzen (Jugendlager Sandbostel), Aufnahmeausschuss...“
stellte am 09. Juli 1954 u.a. fest:
„Nach dem Sachverhalt hat sich
der Antragsteller zweifellos in einer durch die politischen Verhältnisse
in der sowjetischen Besatzungszone („DDR“) bedingten und
auch von ihm nicht zu vertretenden besonderen Zwangslage befunden. In
diese war er wegen seiner das kommunistische System ablehnenden Haltung
und wegen seiner Zugehörigkeit zur "Jungen
Gemeinde" gekommen, auf Grund dessen ihm erst die Spitzelverpflichtung
durch den SSD abgenötigt worden ist. Die Zugehörigkeit zu dieser "Jungen
Gemeinde" kann ihm nicht angelastet werden. Denn gerade diese bildet
ein wertvolles Gegengewicht zu dem in der sowjetischen Besatzungszone
herrschenden politischen Druck und Terror. Um sich der Spitzelverpflichtung
zu entziehen – Nichtausführung der Aufträge hätte ihn gefährdet
– blieb dem Antragsteller nur der Weg der Flucht.“ –
In der Bundesrepublik Deutschland
Mit einem Bus wurden wir in der Nacht von Hannover-Langenhagen ins Jugendlager Sandbostel bei Bremervörde gefahren. Dort waren männliche, jugendliche Flüchtlinge aus der
„DDR“ untergebracht und warteten darauf, zu Verwandten und
/ oder an eine Schule oder berufliche Ausbildungsstätte vermittelt zu
werden. Erst im Jahre 2004 erfuhr ich durch einen Fernsehbeitrag, dass
dieses Jugendlager eines der vielen Konzentrationslager der Nazizeit
war (!).
Jeder
Jugendliche wurde hier von Berufsberatern nach seinen Zielen befragt
und eingehend beraten. Auf meine Bemerkung, dass mich Schule und Abitur
nicht mehr interessierten, legte er mir eindringlich nahe, auf das Abitur
nicht zu verzichten. In Nordrhein-Westfalen solle noch im Herbst 1953
ein Förderkurs für ehemalige Oberschüler aus der „DDR“ beginnen,
der zum Abitur führe. Ich bin im nachhinein sehr dankbar für diese Mitteilung.
Ungefähr
14 Tagen später nahm ich an einem neunwöchigen freiwilligen Arbeitseinsatz
im Grenzdurchgangslager Friedland/Leine teil. Aus dem Radio erfuhren
wir dort am 17.06.1953 von den Streiks und Demonstrationen in den Städten
der „DDR“, was uns mit großer Hoffnung auf eine Systemänderung
erfüllte. Ich verließ Friedland um den 19.08.1953 und kehrte nach Sandbostel
zurück.
Ab
Mitte September verbrachte ich noch sechs Wochen als Pfleger bei Schwerbehinderten
im Haus „Megiddo“ in Eckardtsheim, das zu den von Bodelschwingh’schen
Anstalten Bethel bei Bielefeld gehört, für freie Unterkunft und Verpflegung.
Schließlich reiste ich am 10.11.1953 mit der Bahn an meinen nächsten Bestimmungsort,
Petershagen a. d. Weser, wo der Förderkurs beginnen sollte. Wir ehemaligen
Oberschüler aus der „DDR“ wurden dort privat untergebracht
und bekamen ein monatliches Stipendium von 116 DM (!). Weil die Vollpension
100 DM kostete, blieben uns für alle anderen Ausgaben nur 16 DM.
Unterrichtet
wurden wir in der „Staatlichen Oberschule für Jungen in Aufbauform".
Am 23.03.1955, nach einem Jahr und gut vier Monaten Förderkurs, erhielt
ich mein Abiturzeugnis ausgehändigt.
In
den Ferienzeiten versuchte ich stets, etwas Geld zu verdienen. So pflanzte
ich im Frühjahr 1954 mit einem Mitschüler in den nahe gelegenen Waldungen
„Heisterholz“, auf einer großen Kahlfläche, 30 000 Kiefernsämlinge.
Und in den großen Ferien 1954 arbeitete ich 3 Wochen in der Ziegelei
in Heisterholz am Fließband.
Ende
März 1955 fuhr ich per Anhalter nach Freiburg im Breisgau, um dort an
der Albert-Ludwigs-Universität ein Studium zu beginnen. Vor Semesterbeginn
arbeitete ich hier noch drei Wochen auf dem städtischen Hauptfriedhof.
Zunächst
schrieb ich mich für die unterschiedlichsten naturwissenschaftlichen
Fächer ein, vollendete das Studium aber dann mit Bodenkunde als
Hauptfach und Geographie sowie Geologie als Nebenfächer mit der Promotion
zum „Dr. rer. nat.“ am 10.05.1962 mit einer Arbeit „Beziehungen
zwischen Böden und Landschaft in der Emmendinger Vorbergzone“.
In
den ersten Semestern bekam ich ein Stipendium und vom 01.09.1958 - 30.05.1962
hatte ich am Institut für Bodenkunde eine Stelle als wissenschaftliche
Hilfskraft inne. In den Semesterferien arbeitete ich dreimal je vier
Wochen auf dem Bau in Basel und danach noch einmal drei Wochen in einer
Ziegelei in Freiburg. Vom November 1957 bis August 1958 wirkte ich als
freier Mitarbeiter im Verlag Herder in Freiburg am „Großen Herder
Atlas“ mit.
Am
01.06.1962 ernannte man mich am Institut für Bodenkunde der Forstwissenschaftlichen
Fakultät der Universität Freiburg i.Br. zum wissenschaftlichen Assistenten.
Am 01.06.1968 wurde die Assistentenstelle in eine wissenschaftliche
Angestelltenstelle umgewandelt, die ich bis zum 01.09.1970 behielt.
Am 02.09.1970 erfolgte unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit
die Ernennung zum Akademischen Rat und am 01.09.1971 zum Akademischen
Oberrat. Aus dieser Position wurde ich mit Wirkung vom 31.12.1996 in
den Ruhestand versetzt.
An diesem Institut oblagen mir sehr
interessante, vielfältige, überwiegend selbständige Tätigkeitsbereiche.
Meine Hauptarbeitsgebiete erstreckten sich – wie an einer Universität
üblich – auf wissenschaftliche Forschung und Lehre. Die Forschung
umfasste vor allem Bodenphysik, Geochemie der oberrheinischen Lösse,
Regionale Bodenkunde und Bodenkartierung. Dazu waren auch Arbeiten in
Labor und Gelände erforderlich. Mein Publikationsverzeichnis umfasst
ca. 60 Arbeiten, darunter finden sich auch mehrere Bücher, an denen
ich mitgewirkt habe, z.B. „R. Ganssen und F. Hädrich: (Welt-)Atlas
zur Bodenkunde“ (1965). Die Lehre bestand seit 1962 in Vorlesungen,
Seminaren, Geländeübungen, Kartierpraktika und Exkursionen. Anvertraut
waren mir dabei Studenten der Forstwissenschaft, Biologie, Hydrologie,
Geographie und Geologie. Nicht unerheblichen Anteil nahmen auch die
Arbeiten innerhalb der Institutsverwaltung ein, einschließlich der Institutsbibliothek.
Von 1968 bis 1996 gab ich die Schriftenreihe des Instituts „Freiburger
Bodenkundliche Abhandlungen“ heraus, insgesamt 36 Hefte.
Seit
dem 19.12.1957 bin ich verheiratet und habe mit meiner Frau Renate zwei
Söhne, Johannes und Thomas. Nach insgesamt 17 Jahren in Freiburg i.Br.
bezogen wir 1972 unser eigenes Haus in Kirchzarten/Schwarzwald.
Seit 1956 habe ich durch Besuche bei
meinen Eltern, bei Freunden und Schulkameraden sowie in der Freien evangelischen
Gemeinde diese mir so wertvollen Beziehungen gepflegt und weiter gefestigt.
Auch weiterhin bin ich meinem Elternhaus in Hermsdorf, Heinrich-Heine-Str.
3, sehr verbunden, in dem heute noch meine Schwester Ruth wohnt. Am
15.05.1999 habe ich am Treffen „50 Jahre Schulentlassung“
der ehemaligen Grundschulklassen 8 K und 8 M teilgenommen.
Ich habe die positive Entwicklung Hermsdorfs während der vergangenen
1 ½ Jahrzehnte stets mitverfolgt, hat mir doch meine Schwester Ruth
seit Jahren regelmäßig Zeitungsausschnitte zukommen lassen. Ich bin
begeistert, wie sich das Bild von Hermsdorf und auch die Versorgungslage
seit der Wende gewandelt und verbessert haben.
Wenn
ich zurückblicke, dann danke ich Gott, meinem Schöpfer, für das gnädige
Hindurchtragen durch mein wechselvolles und auch nicht immer ungefährliches
Leben. Hatte ich das Verlassen der „DDR“ zunächst als ein
großes Unglück angesehen, so erkenne ich nun Gottes wunderbaren Plan
für mich und meine Familie.
Mit
freundlicher Unterstützung meines Sohnes Dr. Johannes Hädrich, Stegen
und meines Freundes Hans-Joachim Gräfe, Hermsdorf. Ihnen gilt mein
besonderer Dank!
Dr.
Friedhelm Hädrich
D-79199 Kirchzarten, den 16. Februar 2005 |