Brief an Horst Bienek  (27.02.1974)

 

1.) Sie haben mich verblüfft, lieber Horst Bienek [1], als Sie mich aufforderten, einen Beitrag zu Ihrem Sammelband über Polen zu leisten. Was habe ich mit Polen zu schaffen? Ich war noch nicht einmal dort. Aber Sie bereiten doch gerade wieder einen Film vor nach einem Roman eines polnischen Autors, sagten Sie.

Das stimmt. Seit Jahren schon versuche ich, den Roman von Jerzy Andrzejewski [2] „Finsternis bedeckt  die Erde“ zu verfilmen, seit Jahren vergeblich. Es han­delt von einem der quälendsten Kapitel der Geschichte: der Inquisition. Torquemada, der Großinquisitor von Spanien, versucht mit Denunziation, Folter und Schei­terhaufen die Utopie vom Reich Gottes auf Erden zu verwirklichen. Damit wird er zum mächtigsten und gefürchtetsten Mann in den vereinigten Königreichen. Zehntausend verbrannte Ketzer und Hunderttausende vertriebener Juden zeugen für seinen überwältigenden Glauben an das Schlechte im Menschen. Diego, ein junger Mönch, der sich nicht damit abfinden will, dass das Heil der Menschen aus Terror und Mord erwachsen soll, plant, den Großinquisitor durch ein Attentat zu beseitigen. Aber er versagt. Statt ihn zu bestrafen, macht Torquemada ihn zu seinem Privatsekretär, zieht ihn ins Zentrum der Macht.

Das verändert Diegos Bewusstsein: im Sumpf der Intri­gen meint er nunmehr zu erkennen, wie viele heimliche Feinde der allein selig machende Glauben hat. Aus einem Gegner der Inquisition wird ihr bedingungs­loser Verfechter. Diegos Erleuchtung erreicht Torquemada mit einem einfachen Mittel: mit Gift. Der Fanatismus des jungen Mönches hat nun endgültig seine Richtung gefunden. - Als Torquemada den Tod nahen fühlt, bereut er. Er bekennt, dass seine blutige Glaubensherrschaft nur die eigene Macht im Auge hatte, er will die Angst abschaffen, die auch ihn ins Verderben trieb. „Um die Menschheit vor der völligen Vernichtung zu retten und sie für immer davor zu bewahren, dass sie in den Fluten der Unfreiheit, der Furcht, der Lüge und des Hasses versinkt, müssen wir alles zerstören, was wir aus Verachtung des Menschen errichtet und mit den ärgsten Leiden der Menschen erkauft haben. Wir müssen den Wahnsinn unseres Glaubens einen Wahnsinn nennen und die Falschheit als Falschheit bezeichnen, um uns vor noch ärgerem Übel zu retten. Mein Sohn, man wird lernen müssen, ohne Gott und ohne Satan zu leben". Aber Diego bringt den Alten zum Schweigen, er will nichts begreifen, er braucht Gott oder die Utopie des Heile, um sein eigenes Leben zu rechtfertigen. Für ihn wurde aus der Liebe zum Nächsten die Liebe zur Menschheit - nicht der Menschheit, wie sie ist, sondern wie sei sein soll. Die Inquisition geht weiter.

2.) Man begreift, warum Andrzejewski für seinen Roman in den Staaten, die sich sozialistisch nennen, keinen Verlag fand. 1970 schrieb die Süddeutsche Zeitung: "Andrzejewski - das darf man sagen - ist Polens Solschenizyn.[3]" Aber im Gegensatz zu Solschenizyn fand Andrzejewski bei uns kaum Beachtung. "Die Scheiterhaufen loderten. Die Häretiker, die im letzten Augenblick Reue bekundeten, erdrosselte man mit ei­sernen Ketten. Hunderte von kleineren Sündern wurden auf die Galeeren geschickt. Doch die geleerten Gefäng­nisse füllten sich rasch wieder mit neuen Missetätern. Um den Irrenden beizustehen, wurden in den Kirchen Feiertage verkündet. Nach der Verlesung der Glaubens­akte erging an alle Gläubigen die Aufforderung, sich im Lauf der nächsten dreißig Tage selbst vor dem zuständigen Tribunal anzuklagen, wenn sie schuldig seien oder von der Schuld anderer Menschen wüssten. Die einen taten es - die anderen fielen ihnen zum Opfer. Niemand war seines Lebens, seiner Ehre, seines Besitzes sicher - so wuchs unter den Menschen die Frömmigkeit, und ihr treuer Schatten, die Angst bereitete sich aus.",
schreibt Andrzejewski und Solschenizyn fährt fort:
"Den Schädel mit einem Eisenring zusammenpressen, den Angeklagten in ein Säurebad tauchen, ihn nackt und gefesselt den Ameisen oder Wanzen aussetzen, ihm eine glühende Stahlrute in den After treiben, langsam mit dem Stiefel seine Geschlechtsteile zertreten und, als leichtester Grad ihn tagelang mit Schlaflosigkeit und Durst martern: Was zu Zar Alexej Michailowitsch noch passte, was unter Peter I. bereits als barbarisch empfunden wurde und seit der Großen Katharina völlig unmöglich war, das wurde in der Blütezeit des brillanten Zwanzigsten Jahrhunderts, in einer Gesellschaft, die nach soziali­stischen Grundsätzen geplant war, in den Jahren, als bereits Flugzeuge flogen, Tonfilm und Radio erfunden waren vollzogen, nicht von einem einzelnen Bösewicht, nicht an einem einzelnen verborgenen Ort, sondern von Zehntausenden darauf gedrillten Menschenbestien an wehrlosen Millionen von Opfern. Es ist nicht recht zu verstehen: Warum verwünschen wir heute die Inquisition? Hat es denn außer den Scheiterhaufen keine feierlichen Gottesdienste gegeben? Schwer zu begreifen, was wir an der Leibeigenschaft auszusetzen haben. War es dem Bauern denn verboten, sein Tagwerk zu verrichten? Dazu dürfte er zu Weihnachten Stern­singen, und zu Pfingsten flochten die Mädchen Kränze."

3.) „Archipel Gulag“ erschien 1973, Andrzejewski schrieb seinen Roman 1956, als ein wenig Tauwetter auch nach Polen drang. Das eine ist ein Bestseller,  „Finsternis bedeckt die Erde“ bleibt verboten und vergessen. Auch der Versuch, dieses Buch durch eine Verfilmung wenigstens den Zuschauern des Fernsehens zugänglich zu machen, scheiterte bislang.

Zuerst stellt sich der Intendant des Hessischen Rund­funks in den Weg: war er doch einstens evangelischer Pfarrer und mochte sich nicht mit der Katholischen Kirche anlegen, Auch eine verabredete Koproduktion platzte, als man das Drehbuch in der Übersetzung ge­lesen hatte. Eine Privatfirma hatte Alec Guineas als Hauptdarsteller vorgesehen, der aber war gerade kon­vertiert und wollte keinen Großinquisitor spielen.

In Spanien verweigerte man die Drehgenehmigung, na klar. Aber auch Jugoslawien machte nicht mit "The way you approach the theme is not suitable for us." [4]   In Italien waren einige Kirchenbehörden willig, aber zu teuer. Hans Schweikart [5] gab die Rolle zurück, da er sich ihr gesundheitlich nicht mehr gewachsen fühlte. Die Inten­dantenkrise beim Norddeutschen Rundfunk verschob die nunmehr in Portugal vorgesehene Produktion ein weiteres Mal. Wie es heißt, hat dieser Stoff das Gute, dass „er nicht veraltet.“  Leider.

4.) Nachdenklich geworden, lieber Horst Bienek, merke ich, dass ich tatsächlich einige meiner Filme auf Bücher der polnischen Nachkriegsliteratur gegründet habe. Ein Zufall? Ich glaube nicht. Eher eine spontane Affini­tät. Ich war mir gar nicht bewusst, dass ich nach Büchern aus einem anderen Land griff, gar einem tief hinterm Eisernen Vorhang. Diese Schriftsteller hatten einfach mehr zu sagen, als die meisten bei uns, sie schrieben nicht über Halbzeit und nicht halbseiden, sie hatten ihre Erfahrungen gemacht und konnten sie auch noch formulieren, sie betrafen unmittelbar. Manche ihrer Bücher lasen sich ohnehin wie Treatments [6] zu einem Film. Und sie waren kooperativ.

Bei deutschen Autoren galt damals die Verachtung gegenüber den Medien Film und Fernsehen, man brauchte einen Dolmetscher, Dramaturg genannt, um mit ihnen zu reden. Außerdem hatten sie lauter undankbare Aufgaben über­nommen: die Vergangenheit zu bewältigen, die Welt zu verändern, den Beifall nicht von der falschen Seite zu bekommen, alles besser zu wissen, vor allem aber Resolutionen zu verfassen. Wie sollten sie noch zum Nachdenken kommen, diese Unterschriftsteller. Mit Recht endet so was in der IG Druck und Papier, pensionsreif und tariffähig.

5.) Mit den polnischen Schriftstellern verstand ich mich auf Anhieb, sie konnten kein Deutsch, ich kein Polnisch, wir meinten genau dasselbe, wenn wir von dem bisschen Glück sprachen. Auch nachdem man sie persönlich kennen gelernt hatte, blieben ihre Bücher lesbar.

6.) Da kam zum Beispiel 1962 Slawomir Mrozek [7] nach Frankfurt. Sein zweiter Band „Satiren“ sollte gerade auf Deutsch erscheinen, das bitterböse Stück „Die Polizei“ war mit viel Beachtung gespielt worden - das Publikum verstand damals diese Literatur noch unmittelbar aus den Erfah­rungen der Hitlerzelt: Nationalsozialismus und Interna­tionalsozialismus gleichen sich in ihren Verbrechen.

Ich hatte gerade fürs Fernsehen Mrozeks Einakter „Karol“ adaptiert, eine Parabel über die Anfälligkeit der Intel­lektuellen der Macht gegenüber, über ihre Dummheit und Feigheit, ihrem Parasitentum.

Die Presse, die so was nicht lassen kann, verglich Mrozek mit Ionesco und Dürrenmatt. Und wahrhaftig, er hatte mehr gemeinsam mit den Schriftstellern in Paris oder Zürich als mit den ranzigen Realisten diesseits und jenseits der Mauer. Er schien geradewegs aus England zu kommen: Maßanzug, kurzes Haar, rasche Augen hinter randloser Brille, Dunhill-Pfeife, Englisch sprechend. Erster Eindruck: ein Snob. Wir tausch­ten Tabak aus. Zweiter Eindruck: ein scheuer, genau registrierender Mann meiner Generation, die gerade noch genug Krieg und Wahnsinn mitbekommen hatte, um auf immer gegen das Morden und Sterben für eine Idee, für eine Ideologie, für ein Idol zu sein. Und schon ganz und gar gegen Versprechungen auf das Übermorgen, da alles besser wird und deshalb heute noch ein wenig Unterdrückung und Not und Menschenverachtung herrschen muss, damit dereinst unsere Kinder das Paradies auf Erden wieder finden. Ost?  West? Aus feindlichen Lagern? Wir wollten gar keine Kinder.

7.) Mrozek hatte Quartier genommen in der Wohnung von Jürgen Neven du Mont [8]. Als ich ihn abholen wollte, kam mir bereits im Treppenhaus das Wasser entgegen. Laut lief der Fernseher. Ich klingelte, er kam durchs Wasser gewatet, stutzte und meinte verwundert: "Sorry, before we leave, I only want to take a bath." [9]Anderntags gingen wir einen Koffer kaufen, einen großen Koffer, denn er wollte viel mitnehmen. Als wir durch die Riesenhalle der Hauptpost an der Frankfurter Zeil gingen, sahen uns die Leute nach. Ist doch eine skurrile Persönlichkeit, dachte ich, fällt sogar hier auf. Als ich mich umblickte, zog sich eine feine weiße Spur hinter uns quer durch die Halle. Sie kam aus Mrozeks Koffer. "Oh, damned, my milk." [10]  Ich weiß heute noch nicht, wie er in den neuen Koffer zwei von diesen verflixten Milchtüten hineinprakti­ziert hatte. Aber offensichtlich trank er nicht nur Whisky. Zog Mrozek solche Situationen an oder schreibt auch ein Satiriker Autobiographisches? In Berlin, vor der damals noch empörend neuen Mauer, zeigte sein schweigendes, schmallippiges Gesicht betroffene Missbilligung darüber, dass man solch phantastischen Einfall, der eigentlich ihm zustünde, ernsthaft realisieren kann. Wir verein­barten Zusammenarbeit, er wollte mir ein Fernsehspiel schreiben, mit dem Titel Grenzziehung.

8.) Wochen spätern kam ein Brief aus Warschau:

„My Lord, I am living under the great fear that you think of me, now as about somebody like Graf Münchhausen type, who visited once your city, spoke some words, drank some drinks, and than dashed away ans that is all what you have of him. The reason is that before I set freely to werk fcr you, I have to Write some more plays. 1 have to do it for some reasons, the most important only I shall mention: If I don't Write them now, I shall write them neuer, because not writing them now it means to loose the idea and grip of them, to forget the mood and flavour in which I want to write them. So believe me, I really werk and work since I came back, practically I don't atep out of my home. So ploaso don't be anadous and smoothe things somehow with Mr. Neven-duMont, who, I am Bure, feols a bit uneasy about not roceaving any signa from me.I would be thankfull for just few words fron you confirming that this letter reachod you. Have plenty of good pipes-sessions, sincereliest yours Slavomir Mrotek „ [11

Und nach einiger Zeit hatte ich mein Drehbuch: beim  Abendessen bekommt eine friedliche Familie Besuch von einer internationalen Kommission, die mitten durch die Wohnung im Interesse der Koexistenz und Ent­spannung eine endgültige Grenze zieht. Nun kann man ohne Passierschein nicht mal mehr aufs Klo. Und Oma wird erschossen beim irrtümlichen Grenzübertritt. Aber die Familie richtet sich ein, man muss mit der Grenze leben, wer nicht erschossen werden will, braucht sie Ja nicht zu überschreiten, es lebe die Entspannung. - Was ist Satire, was Wirklichkeit?

9.) Maret Hlasko [12], vier Jahre jünger als Mrozek, kam schon 1958 in die Bundesrepublik als Emigrant. Trotz seiner Jugend hatte ihn die Barbarei des Zweiten Weltkrieges und des Stalinismus gezeichnet. Er hatte sich als Kellner, Bauarbeiter, Lastwagenfahrer durchgeschlagen - und so benahm er sich auch. Jede Erinnerung an ihn hat mit Alkohol zu tun. Wenn er rauchte, verbarg er die Zigarette in der hohlen Hand und zog daran, heim­lich, als würde er von einem unsichtbaren Aufseher bewacht. 1960 verfilmte ich seine Novelle „Die Friedhöfe“ mit Rene Deltgen [13], das Drehbuch hatte Helmut Krapp [14] geschrieben. Es war eine leidenschaftlich -zornige Abrechnung mit den Zuständen seiner Heimat. Der Pressedienst „Kirche und Fernsehen“ schrieb dazu: "Hlaskos Thema hat den Charakter einer innerparteilichen Diskussion unter Kommunisten, ein Problemstoff also, der uns wenig angeht." Der Zuschauer wird genötigt, sich mit dem "guten", dem "richtigen" Kommunisten zu identifi­zieren, er wird dazu genötigt, alle Probleme für gelöst zu halten, wenn nur die "alten Kämpfer" .... die Macht ausüben würden. Das Fernsehspiel hat also - ohne alle Umschweife - zum Ziel, den "wahren" Kommunismus zu vertreten. Der Zuschauer trauert mit dem Autor und mit dem Helden des Stücks um das verlorene Ideal der Partei. Was für ein Widersinn auf westdeutschen Bildschirmen!!
Die Schweizer TAT gab sich gelassener: "Völlig abwegig scheint die Bemerkung (sie kam aus der bundesdeutschen Demokratur), Hlaskos Geschichte sei ein Plädoyer für den "wahren" Kommunismus und es sei widersinnig und bedenklich, unter solcher Tarnkappe östliches Gedankengut in den Westen einzuschmuggeln. Hlasko zeigt höchst eindringlich, wohin der Kommunismus sich selber führt: ad absurdum."

Hlasko gehört zu jenem Typ des literarischen Emigranten, dem es in einem andern Land die Sprache verschlägt. "Schreiben ist fast so gut wie Saufen" hatte er zynisch gesagt. Verabredungen mit ihm wurden schwierig, Pläne verliefen sich in neuen Plänen: Er wurde ein Vorschuss­autor. Die Freiheit bekam ihm nicht. Caspar David Witsch, einer der letzten aus der Garde der großen deutschen Verleger, sagte über seinen Autor 1963: "Marek ist in zehn Jahren einer der größten Autoren Europas oder tot". Es sollte schneller gehen.

10.) Helmut Krapp und ich griffen auf das zurück, was er mit­gebracht hatte in den Westen: wir bearbeiteten die 1958 veröffentlichte Erzählung „Die Schlinge“, die ich 1964 verfilmte. Wir wussten, dass sie autobiographische Züge hatte, wir wählten sie deshalb aus. Aber wir konnten nicht ahnen, dass dieser Film so tödlich genau den Verlauf von Marek Hlaskos eigenen Lebensweg widerspiegeln sollte. „Die Schlinge“ handelt von den letzten Tagen eines Trinkers, der vergeblich versucht, vom Alkohol loszukommen, den auch die Liebe einer Frau nicht mehr zu retten vermag. „Wir leben in einem riesigen Konzentrationslager", sagt der aus der Partei ausgeschlossene Schriftsteller. „was soll man da noch schreiben." Der Verlust der äußeren Freiheit trieb ihn zur Flucht in den Alkohol, jetzt führt ihn der Kampf mit der Flasche in die Verzweiflung. Die Schlinge ist tödlich.

Als ich im Juni 1969 von einer Reise nach Walldorf zurückkam, es war spät am Abend, meldete sich Hlasko am Telefon. Ob wir uns noch sehen könnten, er sei in der Nachbarschaft bei dem ZDF-Dramaturgen Bobermin. Ich war müde, er gar betrunken. Ich sagte, es ist besser, wir sehen uns morgen. Am nächsten Tag war er tot.

So wurde die Wiederholungssendung des Films „Die Schlinge“ am 20. Juni 1969 - auch Caspar David Witsch, sein Ver­leger war längst tot - zum Requiem für einen der begabttesten jungen europäischen Schriftsteller.

Mein Nachruf lautete:
Heute Nachmittag wurde der polnische Schriftsteller Marek Hlaeko in Wiesbaden beerdigt. Dort auf dem Südfriedhof bekam er sein Grab, zufällig und grundlos, so als sollte auch dieser Platz noch nicht seine endgültige Bleibe sein.
Seit er aus Polen weggegangen war, blieb alles für ihn Durchgangsstation; von Warschau nach Wiesbaden, ein weiter Weg, der ihn über das Flüchtlingslager in Berlin-Marienfelde ins Exil führte, nach Paris, nach London, wieder nach Deutschland, dann nach Israel in ein Kibbuz, und weiter nach Amerika, nach Hollywood.
Und von überall kamen Nachrichten, von seinem unruhigen Leben: Hlasko trinkt, Hlasko randaliert, Hlasko im Ge­fängnis, Autoanfall in Jugoslawien, Schlafmittelvergif­tung in Berlin, dazu das übliche Zeitungsgewäsch über die Krisen seiner Ehe.
In die hessische Rentner- und Regierungsstadt Wiesbaden kam er wegen der Verfilmung der Israel-Erzählung „Alle hatten sich abgewandt“. Er hat diskutiert, getrunken und dann in der Nacht die gewohnten Schlaftabletten ge­nommen. Waren es mehr als sonst? War es ein Versehen oder Absicht? Schlafenwollen oder Lebensmüdigkeit? War es gar der Nachvollzug dessen, war er in seiner Erzählung „Die Schlinge“ so treffsicher beschrieben hatte? Als Motto hatte er vorangesetzt Mit einer guten Frau: Kein Lebensweh - Von guter Koste: Kein Magenweh - Von gutem Trunk: Kein Schädelweh. Damals brauchte er noch keine Schlaf­tabletten.
Als er die „Die Schlinge“ schrieb, war er 23 Jahre alt und bereite weithin berühmt als Wortführer seiner Generation. Er starb mit 35.
Schnaps und Schlafmittel, das ist die nüchterne Diagnose seines Endes - bestimmt war es kein absichtlicher Selbst­mord. Einen Flugschein nach Tel Aviv fand man in seiner Tasche. Nichts deutet auf Selbstmitleid hin. Er hat immer die bittere Wahrheit gesucht und gefunden und geschrieben. Schon frühzeitig erkannte er „Wir gingen dem Leben ent­gegen, aber man hat uns auf Friedhöfe gebracht. Wir re­deten von Gerechtigkeit, aber wir kennen nicht außer Terror und Verzweiflung. „Was sollte ihn noch erschrecken? Mit dieser Verzweiflung hing er an seinem Land, hing er an Warschau. „Für mich", sagte er, „wird die Stadt meiner Jugend immer die Stadt sein, in der die Leute keine Wohnung haben, verbittert sind, eine Stadt ohne Gesang, in der ein Betrunkener auf der Straße torkelt, Menschen sich prügeln. Es wäre komisch, wenn ich sie anders beschreiben werde. Ich bin kein Zyniker, zynisch war die Literatur des sozialistischen Realismus."
Gerade diesen Vorwurf des Zynismus machten ihm die Herrschenden in seinem Land: er sei ein Nihilist, der die Jugend verdürbe, ein Verräter. Er antwortete: „Wie Wölfe stürzen sich die Leser auf alles, was wahr ist. Im totalitären Staat wird der Schriftsteller Zeuge der Vernichtung. Er sieht die Vernichtung der Menschenwürde, der menschlichen Ehre, der menschlichen Liebe. Die Zensur mordet. Der Zensor versteht nichts von Liebe." In der Studentenzeitschrift „Po Prosit“ trat der junge Hlasko seine ersten Wahrheitsbeweise an, in jener Zeitschrift also, die so entscheidend zum Tauwetter in Polen beigetragen hat, die den Aufstieg Gomulkas  aus dem Gefängnis zum Staatschef herbeiführen half und die später von demselben Gomulka [15] verboten wurde. Seine Erzählungen machten Hlasko zum Idol der polnischen Jugend. Er wollte "den Kommunismus vor dem Kommunismus retten." Die Funktionäre schlugen zurück. Man sperrte sein Auslandsvisum, die Angriffe in der Parteipresse begannen. Hlasko wurde Emigrant.

"Zum Teufel. Ich habe Polen verloren. Ich bin ausge­stoßen und liebe mein Land. Wie soll ich leben? In welcher Sprache soll ich schreiben? Es gibt nur eine Sprache für mich. Man geht ohne sie vor die Hunde, man muss in seiner Heimat die Wahrheit suchen können."

Marek Hlasko gehört zu den seltenen Schriftstellern, die das Schreiben als Wagnis auf sich nehmen, die wissen, dass es risikoreich und lebensgefährlich ist, hinter der Wahrheit her zu sein. Das unterschied ihn von jenen Freiplatzschnorrern und Schreibtischtätern, die mit Gesinnung und Schwung über ihr parasitäres Dasein hinwegtäuschen wollen. Er hatte eine Altersversorgung nicht nötig.

Seine Bücher lesen sich wie Filme. Er schrieb über das, war er erlebte, was er sah und was er kannte. War er zu sagen hatte, wusste er verständlich zu machen. Er beherrschte das Handwerk des Erzählens so wie er seinen Mann stand als Lastwagenfahrer, Bauarbeiter, Kellner. Er wusste, dass das Niederschreiben einer Geschichte nicht mehr Wahrheit an den Tag bringt, als jede andere Tätigkeit - aber auch nicht weniger.


[1] Horst Bienek Schriftsteller * 07.05.1930 in Gleiwitz 07.12. 1990 in München / Bayern Arbeitsgebiete: Gedicht, Erzählung, Roman, Essay, Hörspiel Veröffentlichungen (Auswahl):  Traumbuch eines Gefangenen - Gedichte & Prosa (Hanser) - Die Zelle, Roman  (1968) - Bakunin, eine Invention, Essays (1970) - Die erste Polka, Roman (1975) - Gleiwitzer Kindheit, Gedichte (1976) - Septemberlicht, Roman (1977) - Zeit ohne Glocken, Roman (1979) - Erde und Feuer, Roman (1982) - Sechs Gramm Caratillo, Hörspiel-CD (2002 Random House Audio, mit Klaus Kinski).

[2] Jerzy Andrzejewski - Schriftsteller * 19.08.1909 Warschau (Polen) 19.04.1983 Warschau (Polen)

Appellation Roman - Archipel Gulag (1956 geschrieben, ) - Asche und Diamant Roman (Berlin Aufbau Verlag, 1964 und DTV, München 1971 und München Albert Langen Georg Müller Verlag GmbH 1983) - Das grosse Lamento des papierenen Kopfes (Deutscher Taschenbuch-Verl., 1969) - Die Karwoche (Dresden: Sachsenverlag, 1950) - Die Pforten des Paradieses - Die fiktive Gattin (Berlin: Aufbau Verlag, 1982) - Finsternis bedeckt die Erde (Roman. München (Langen Müller) 1961) - Jetzt kommt über dich das Ende - Ordnung des Herzens - Siehe er kommt und hüpft über die Berge - Warschauer Karwoche (DTV, München 1966 und Aufbau, Berlin 1966)

[3] Alexander Issajewitsch Solschenizyn * 11.12.1918 Kislowodsk  - russischer Schriftsteller, Dramatiker und Historiker und Preisträger des Nobelpreises für Literatur. - Das rote Rad ( August Vierzehn  - November sechzehn - März siebzehn ) - Der Archipel Gulag Teil 1 bis 3 und gekürzte Fassungen- Der erste Kreis der Hölle  - Die Eiche und das Kalb. Skizzen aus dem literarischen Leben  - Die russische Frage - Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch - Kerze im Wind - Krebsstation - Matrjonas Hof  - Nemow und das Flittchen - Ostpreußische Nächte - Republik der Arbeit  - Zweihundert Jahre gemeinsam

[4] Die Art, wie Sie an das Thema herangehen, ist nicht für uns geeignet.

[5] Hans Schweikart  * 01.10.1895 Berlin  01.12.1975 München - Schauspieler, Regisseur, Intendant, Filmschöpfer, Autor und Lehrer.

[6] Manuskripte

[7] Slawomir Mrozek * 26.06.1930 Borzecin, bei Krakau (Polen) Studierte Architektur, Kunstgeschichte und Orientalistik, in Polen war er zunächst als Karikaturist erfolgreich. 1957 erstes Buch mit satirischen Erzählungen. Es folgten seine Stücke, mit denen er Weltruhm erlangte. Er galt damals bei der polnischen Regierung als einer der Vorzeige-Intellektuellen. 1968 beantragte er in Paris, als Reaktion auf die Niederschlagung des Prager Frühlings, politisches Asyl. Er verbrachte sechs Jahre in Mexiko und kehrte 1996 nach Polen zurück. Heute lebt er in Krakau. Mrozek gehört, mit Beckett und Dürrenmatt, zu den bedeutendsten Dramatikern unserer Zeit."

[8] Jürgen  Neven du Mont  * 13.09.1921 München † 14.07.1979 München  - Journalist -  Kunstpreis Berlin: Jubiläumsstiftung 1848 Film-Hörfunk- Fernsehen 1963 Bücher: Die Mäuse des Herrn Petersilie und viele andere Geschichten ... - Liebe deine Deutschen wie dich selbst - Zum Beispiel 42 Deutsche Bericht aus einer deutschen Stadt

[9] Es tut mir Leid, bevor wir gehen, will ich nur ein Bad nehmen.

[10] Oh verdammte, meine Milch.

[11] „Mein Herr, ich bin in großer Sorge, dass Sie mich für eine Art Baron Münchhausen halten, der einst Ihre Stadt besuchte, einige Worte murmelte , einige Drinks verzehrte, und dann auf und davon war, und das war alles, was Sie von ihm hatten. Der Grund dafür ist, dass ich einige weitere Stücke zu schreiben habe, bevor ich mich zügig für Sie an die Arbeit machen kann. Ich muss es aus verschiedenen Gründen tun, nur den wichtigsten will ich anführen:
Wenn ich die Stücke jetzt nicht schreibe, werde ich sie nie schreiben, denn sie jetzt nicht zu schreiben , bedeutet, die Idee und das Gefühl dafür zu verlieren, die Stimmung und Atmosphäre zu vergessen, in der ich sie schreiben möchte. So glauben Sie mir bitte, ich arbeite wirklich und arbeite seit meiner Rückkehr unentwegt, praktisch verlasse ich mein Haus überhaupt nicht.  Bitte seien Sie deshalb nicht verärgert und regeln Sie die Dinge
irgendwie mit Hern Neven-du Mont, der, da bin ich sicher, sich ziemlich unbehaglich fühlt, weil er kein Lebenszeichen von mir erhält.
Ich wäre dankbar für ein paar Worte der Bestätigung von Ihnen, dass Sie diesen Brief erhalten haben. Ich wünsche Ihnen viele gemütliche Tabaksrunden, immer  Ihr Slavomir Mrozek“

[12] Marek Hlasko * 14.01.1934 Warschau  † 14.06.1969 Wiesbaden - schlug sich als Gelegenheitsarbeiter durchs Leben, bis er 1955 mit seinen ersten Erzählungen großes Aufsehen erregte. Von 1955 -1957 war er Redakteur der Wochenzeitschrift "Po Prostu" (Geradeheraus), des führenden Organs der kritischen Intelligenz. 1958 erhielt er den angesehenen polnischen Verlegerpreis. Im gleichen Jahr fuhr Hlasko zu einer Studienreise nach Westeuropa. Als ihm die polnische Regierung sein Visum nicht verlängerte, kehrte er nicht mehr nach Polen zurück. Im Alter von 35 Jahren starb Hlasko 1969 in Wiesbaden nach Alkohol- und Tablettenkonsum an Herzversagen. Bücher: Die schönen Zwanzigjährigen - Der achte Tag der Woche und andere Erzählungen -Hafen der Sehnsucht Erzählungen - Peitsche Deines Zorns Roman

[13] René Deltgen * 30.04.1909 Esch / Luxemburg † 29.01.1979 Köln -  Schauspieler, Filme:  "Der Tiger von Eschnapur" - "Das indische Grabmal" - Savoy-Hotel 217 (1936) Regie: Gustav Ucicky  -Starke Herzen im Sturm (1937) Regie: Herbert Maisch - Nordlicht (1938) Regie: Herbert B. Fredersdorf - Die Grüne Hölle (1938) Regie: Eduard von Borsody - Das große Spiel (1941) Regie: Robert A. Stemmle - Dr. Crippen an Bord (1942) Regie: Erich Engels - Wen die Götter lieben (1942) Regie: Karl Hartl - Zirkus Renz (1943) Regie: Arthur Maria Rabenalt - Nachtwache (1949) Regie: Harald Braun - Sterne über Colombo (1954) Regie:Veit Harlan - Vom Himmel gefallen (1955) Regie: John Brahm - Der Tiger von Eschnapur (1959) Regie: Fritz Lang - Das indische Grabmal (1959) Regie: Fritz Lang - Die blonde Frau des Maharadschas (1962) Regie: Veit Harlan - Der Hexer (1964) Regie: Alfred Vohrer - Neues vom Hexer (1965) Regie: Alfred Vohrer - Angeklagt nach § 218 (1966) Regie: Aleksander Ford - Gefundenes Fressen (1977) Regie: Michael Verhoeven

[14] Helmut, Friedrich Krapp * 24.11.1929 in Darmstadt - Dramaturg, Produzent und Autor - 1955-56 Dramaturg Düsseldorfer Schauspielhaus, 1956-61 Dramaturg beim Hessischen Rundfunk, 1961-64 Chefdramaturg Städtische Bühnen Frankfurt, seit 1964 Bavaria München, Leiter der Hauptabteilung Fernsehspiel, 1973-89 Programmchef Fernsehspiel, Serie, Unterhaltung und Dozent der Hochschule für Fernsehen und Film in München, seit 1989 Produzent. Als Produzent Betreuung der Filmarbeiten von Tankred Dorst, Klaus Emrnerich, Hans W Geißendörfer, Hajo Gies, Rolf Hädrich, Reinhard Hauff, Günter Herburger, Volker Vogler und Peter Wirth. DIE FRIEDHÖFE (1960) von Helmut Krapp mit Hädrich nach Marek Hlasko war einer der ersten Fernsehfilme in Deutschland überhaupt.

[15] Wladyslaw Gomulka,  * 06.02.1905 Krosno / Polen - 01.09.1982 Warschau - polnischer Politiker. Gomulka, in der Stalin-Ära mehrfach inhaftiert, wurde 1956 erster Sekretär des ZK und Mitglied des Politbüros der Polnischen Arbeiterpartei. Unter seiner Führung wurden die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft aufgehoben und Zugeständnisse an die katholische Kirche gemacht. Er musste 1970 nach Unruhen über Versorgungsmängel zurücktreten.