Von meinem Großvater

Wilhelm Bauer [1]
 

Vor 50 Jahren trugen ihn die Nachbarn zu Grabe. Doch steht sein Bild noch lebendig vor meiner Seele. Er war ein großer, schlanker Mann. Wenn er zur Stubentür eintrat, stieß er mit dem Kopf fast an den Querbalken. Unter seiner Mütze quoll des schneeweiße Haar hervor. Sein Blick war hart und herrisch. Bettler und Zigeuner scheuten ihn. Zu uns, seinen Enkelkindern, war er sehr liebevoll.

Er, Johann Gottfried Bauer, wurde am 09.03.1810 in Hermsdorf geboren. Von seiner Jugend hat er mir wenig erzählt. Im Jahre 1815 nahmen aus Frankreich heimkehrende russische Soldaten in Hermsdorf mehrere Tage Quartier. Ein Husar setzte den kleinen Burschen auf sein zottiges Pferd und ritt mit ihm im Hofe herum. Als er am Abend nach Hause kam, schlug die Mutter die Hände über dem Kopfe zusammen, denn er war voller Läuse.

In einer Nacht wird er durch laute Geräusche geweckt. Von dem Bette aus, das in der Stube stand, kann er aber nichts sehen, denn Stühle mit überhängenden Tüchern, versperren den Ausblick. Aber neugierig schiebt er ein Tuch beiseite und spitzt hervor. Er sieht, wie mehrere Nachbarn, einen großen Hirsch das Fell abziehen und dann das Fleisch verteilen. Die große Hungersnot im Jahre 1816 hatte wahrscheinlich die Männer zur Wilddieberei gezwungen.

1817 war die Not noch größer. Großvater nahm einen kleinen Sack und ging mit mehreren Knaben hinunter in die Abtei [2] um dort in dem fruchtbaren Lande Brot und Kartoffeln zu betteln.  Aber die wütenden Bauern hetzten die Hunde auf das Bettelvölkchen. Mit leerem Sack und Magen kehrte er am Abend zurück. Noch als alter Mann hatte er die Hartherzigkeit der Menschen nicht vergessen.

Zu Lehrer Schuhmann ging er in die Schule. Damals mussten die Kinder den Katechismus, viele Sprüche und Lieder aus dem Kopf erlernen, Rechnen und Schreiben waren Nebenfächer. Die Schreibstunden wurden besonders bezahlt. Voll Stolz erzählte öfters Großvater, dass er das Schreiben mit einem Federkiel erlernt und der Schulmeister die Federn mit einem scharfen Messer zurechtgeschnitten habe. Großvaters Schrift war ziemlich ungelenkig und mit der Rechtschreibung stand er auf Kriegsfuß. Im Rechnen war er wahrscheinlich auch nicht weit her. Als er als Mann ein ziemlich umfangreiches Geschäft betrieb behalf er sich mit Rechentabellen.

Nach seiner Konfirmation nahm ihn der Bauer und Landfuhrmann Johann Gottlob Klaus [3] als Fuhrknecht an. Nun ging’s hinaus in die weite Welt. Noch keine Eisenbahnen brausten durch Deutschland. Alle Güter mussten durch Landfuhrleute befördert werden. In den Seestädten beluden Kaufleute die schweren Wagen mit Seide, Wein, Kaffee, Rosinen, Zucker und Heringen. Mit kleinen Frachtbriefen als Ausweis versehen, fuhren sie die Waren in die mitteldeutschen Städte. Aus Thüringen schleppten sie Webwaren, Butter, Holzwaren, gebackene Pflaumen, Würste und Kleesamen nach dem Norden. Güter, die für Süddeutschland bestimmt waren, wurden in Auma, in Triptis oder an der bayrischen Grenze umgeladen. Doch erzählte Großvater, dass er das große Fass in Heidelberg und den Dom in Wien gesehen habe. Die breite Straße nach der Ostsee zu führte durch Berlin. Am Alexanderplatz, in einem großen und alten Gasthofe, hielten Fuhrleute aus ganz Deutschland Einkehr. Aus der verschiedenen Bauart der Wagen war zu ersehen, aus welcher Landschaft sie stammten. Bei der Fahrt durch die lange Friedrichstraße durften sie nicht neben dem Wagen hergehen, sondern mussten sich in die Schoßkelle [4] setzen, weil schon damals in Berlin großer Verkehr war.

Nach Gründung des Zollvereins fielen die inländischen Zollschranken Handel und Verkehr hob sich mächtig. Die goldenen Tage der Fuhrleute waren gekommen. Der Großvater erzählte schmunzelnd: „Das war eine Freude, als wir mit den Peitschen klatschend, die Grenzen überfuhren, ohne Zoll zu bezahlen.“ Während des Winters ruhte meistens das Geschäft. Da machten es sich die Fuhrmänner zu Haus bequem. Sie setzten die grünen Käppsel [5] auf und ließen manchen preußischen Taler in der Schänke wechseln. Beim Tanze ging es da hoch her.

Doch ist Großvater in einem kalten, und schneereichen Winter mit dem Schlitten in Stralsund gewesen. In der kalten Zeit schleppten die starken Pferde die Stämme und Klötze aus dem Walde heraus. Die schönen geraden Schneisen waren noch nicht gebaut. Die Fuhrleute bahnten sich selbst einen Weg durch den Wald. Der Baum, der ihnen im Wege stand, wurde abgehauen. Die Fahrt ging oft über Stock und Stein. Solche Holzwege haben Wanderer öfters in die Irre geführt.

Mit 25 Jahren machte sich der Großvater selbständig und heiratete die älteste Tochter seines Fuhrherrn, die Johanne Rosine, "Rosel" [6] genannt. Er kaufte sich einen neuen, blau angestrichenen Wagen und zwei starke schwarze Pferde. Die Plane hatte die junge Frau aus selbstgesponnener Leinwand genaht. Der Schwiegervater schenkte dem jungen Paare einen langen Streifen Wald, der vom Rautenbach bis an die alte Straße reichte. Mitten in den Wald hinein, an die Eisenberger Straße [7], ließ der Großvater sein neues Haus im Jahre 1836 erbauen. Auf die Lehmwände des ersten Stockes setzten die Zimmerleute das erste Stockwerk des zweiten Stockes auf. Im Sommer schliefen die Hühner auf den Kiefern zu beiden Seiten der neuen Wohnung. Stückweise rodete man den Wald, am Feld und Wiese zu ge­winnen.

Wenn der Großvater hinaus ins Land fuhr, schlüpfte er, um seine Kleider zu schonen, in einen blauen Leinwandkittel, Schmitzkittel genannt. Bei schlechtem Wetter aber zog er den dicken, rot gefütterten Trillmantel [8] an, knüpfte die Gamaschen fest und setzte den breitrandigen Hut auf. Kaufleute vertrauten den Fuhrmännern öfters größere Summen von Geld an. Dieses verwahrten sie in dem runden eisernen Geldkober. In der Nacht schlossen sie diesen mit einer Kette an ein Bettbein an. In der Schoßkelle aber lag der aus Weiden oder dicken Spänen geflochtene Fresskorb. - In den Landgasthöfen herrschte am Abend großer Verkehr. Der Hof, füllte sich mit Wagen und der Stall mit Pferden. In der Gaststube erschollen nach dem Abendbrot die alten Fuhrmannslieder. Waren alle Betten belegt, schlief man auf dem Streu. Der Wirt schloss nun die Tore und bestimmte einen Fuhrknecht zum Wächter. Einmal haben sie einen solchen furchtbar verdroschen, weil er Hafer gestohlen hatte. Frost und Hitze, Regen und Schnee, schlechte Herbergen und störrische Pferde konnten das Leben des Fuhrmanns recht sauer machen. Die siebente Plage aber waren die schlechten Straßen. Mit Drückebäumen [9] und Winden mussten die Wagen aus dem Sumpf und Sudel gehoben werden. Bei dieser Arbeit konnte man ihn furchtbar fluchen und wettern hören. Wenn aber die warmen Frühlingswinde wehten, da war es eine Lust, durch das schöne deut­sche Land zu fahren.

Großvater mag nun einiges erzählen:

Ich fuhr in Mecklenburg durch einen großen Wald. Vor mir sprang ein Wildschwein mit seinen Jungen über die Straße. Ich hielt an, um die Tiere nicht zu stören. Als sie im Dickicht verschwunden waren, erschien noch so ein kleiner Nachzügler. Ich packte das Schweinchen an und steckte es in den Wagen. Aber dieses erhob ein lautes Gequietsche. Da sprang die Alte zurück und mit furchtbarer Wucht hackte sie mit den Hauern auf die Pferde ein. In meiner Angst ließ ich das Kleine zu Boden gleiten. Grunzend zogen beiden ab. Ich hatte Preiselbeeren geladen und wollte sie in Magdeburg verkaufen, Aber in der Hitze und Schwüle verfaulten sie. Ich nahm die Schaufel und warf sie in den Straßengraben.

Kurz vor Greifswald bekamen die Pferde eine unheilbare Krankheit den Rotz [10]. Der Tierarzt ließ sie erschießen und den Wagen verbrennen Versicherungen gab es nicht. In meiner Verzweiflung wollte ich mich ins Meer stürzen. Aber ein Reichenbacher tröstete mich und sprach: Friede, das tue nicht. Denk nach Hause! Gott wird dir weiterhelfen. Hier hast du ein paar Taler Geld und mach, dass du heim kommst. Nur mit den Stöcken in der Hand trat ich in die Stube. Schon nach einem Jahre fuhr ich mit neuem Wagen und zwei jungen Pferden ins Land hinaus.

Der alte Hänseroth hatte in Stolp Seide geladen, um diese nach  Warschau zu verfrachten. In einem großen Walde wurde er von überfallen. Er zog seine Pistole hervor und versuchte sie durch einen Schreckschuss zu vertreiben. Aber die bösen Kerle sprangen auf den Wagen. Da nahm sein 15-jähriger Junge, ein verwegener Bursche, einen Knüttel und haute auf den einen Polaken ein. Der Hund aber überfiel den andern. Der Vater schlug furchtbar mit seinem Peitschenstiel auf den dritten ein. Die Bösewichte suchten das Weite! Wohlbehalten kamen sie in Warschau an, aber auf einem anderen Weg fuhren sie wieder in ihr Land.
In einer Nacht sah ich in einem Walde ein bläuliches Licht leuchten. An Gespenster und Irrlichter glaube ich nicht. Ich hielt und ging auf die Stelle zu. Ein alter fauliger Baumstock war es, der ziemlich hell funkelte.
Der alte Hänseroth fuhr mit seinem Jungen Seide ins Österreichische. Sechs Pferde zogen den schweren Wagen. Es war noch sehr früh und dunkel, als sie an die Kreuzstraße kamen. Da hielten die Pferd an und bliesen mit den Nasenlüstern. Da sah der Junge auf der Straße einen Löwen liegen mit funkelnden Augen. Vor dem Räuber hat sich der Bursche nicht gefürchtet, wohl aber vor einer großen Nachteule.
Der Bärenwirt, der alte Geßner, war ein forscher Kerl und furchtbar aufbrausend. Kinder ließen sich in seinem Hofe nicht erblicken. Der Hänseroth hatte zu Buttstädt ein Pferd, einen Apfelschimmel, gekauft. Aber das Pferd war nicht zu bändigen. Es rannte, wenn je­mand in den Stall trat, die Wand hinauf. Zum Ziehen war es nicht zu gebrauchen. Da ging Hänseroth nach Laasdorf zum altern Taubert. Der war als kluger Mann bekannt und sollte helfen. Wie er in die Stube tritt, sagt dieser: Ich weiß wohl, was du willst, du hast so einen Verrückten im Hause. Ich will’s schon machen. Eine Mann hat dir was angetan. Morgen kommt er zu dir, um eine Mistgabel zu borgen. Am andern Tage betrat der alte Geßner den Hof, um eine Mistgabel­ zu borgen. Da nahm Hänseroth die Peitsche und haute furchtbar auf ihn ein und schrie: Du Vagabund, du weißt schon, was du getan hast. Ohne zu murren, verließ Geßner den Hof. Im Stalle aber wurde Krippe an einer anderen Stelle angebracht und das Pferd beruhigte sich.

Soweit Großvaters Erzählungen.

Das Wanderblut hatte sich besonders auf seine Jungen vererbt. Als sein Ältester, der Traugott, zwölf Jahre alt war, wollte er mit Gewalt ins Fischland fahren. Natürlich verweigerte ihm der Vater diese törichte Bitte. Am anderen Tage schon früh vier Uhr rollte der Wagen zum Hofe hinaus. Mittag füttert der Großvater die Pferde an einem Gasthofe. Da spitzt mein Ausreißer unter der Plane hervor. Der Vogel wird gepackt und einem heimkehrenden Fuhrmanne mitgegeben. Das Jahr darauf aber hat er sich bis zum Abend versteckt und dem, Großvater blieb weiter nichts übrig, als ihn bis ans Meer mitzunehmen.
Aber böse Tage kommen über die Fuhrleute. Immer mehr Eisenbahnen werden gebaut. Die stolzen, wohlhabenden Männer verarmen. Straßen und Gasthöfe veröden. Die Kinder sangen auf den Straßen:

Wer hat denn nur den Dampf erdacht,
die Fuhrleut um das Brot gebracht?
Wir sind jetzt wahrhaft übel dran.
Der Teufel hol die Eisenbahn!

Mein Großvater stellte sich um und wurde Handelsmann. Thüringer Erzeugnisse wie Butter, gebackene Pflaumen, Kleesamen, Cervelat- und Salamiwürste verkaufte er in der Gegend zwischen Halle und Magdeburg. Heimwärts belud er den Wagen mit Zuckerrüben, Heringen, Zichorie, Gurken und Zwiebeln. Die Butter legten die Bauern und Händler in Holzkübel. Mit einem aus dünnem Blech bestehenden Spieß konnte das Innere des Kübels untersucht werden. Bei Magdeburg sprangen zwei wilde Männer auf den Wagen. Schnell aber zog der  Großvater den Butterspieß hervor und verscheuchte die Straßendiebe. Das unschuldige Gerät war gar nicht zum Stechen zu gebrauchen.

Wir wollen den Großvater weiter anhören:

1866 [11] brach ein großer Krieg aus. Ich war in Magdeburg und konnte wegen der vielen Kanonen kaum durch die Straßen fahren.

1871 [12] war in Frankreich Krieg. Der Fritz, der Glaser war mit Euer Vater der Louis, wurde eingezogen und diente in Altenburg. Wir merkten zu Hause nicht viel vom Kriege. Solche guten Geschäfte habe ich nicht wieder gemacht wie damals. Mit großer Ehrfurcht schaute er zu den Gründern des neuen Reiches, zu Kaiser Wilhelm I. und zu Bismarck empor. Er, als ein vielgereister Fuhr- und Handelsmann erkannte wohl die hohe geschichtliche Bedeutung dieser Männer. Als 1888 Kaiser Wilhelm verschieden war, meinte die Mutter, es ist gut, dass der Großvater nicht mehr lebt, er hätte Tag und Nacht geweint. Bei Einführung des neuen einheitlichen Geldes soll er überglücklich gewesen sein. Wie schwer mag es oft gewesen sein mit den verschiedenen Geldsorten Handel zu treiben. Betrüger schlugen damals die Goldstücke, die Dukaten, breit und beschnitten die Ränder. Mancher Mensch wird jetzt noch breit geschlagen. Großvater aber kaufte sich eine Goldwaage und bestimmte den Wert des Geldstückes nach Gewicht. Wir Kinder spielten gern mit der niedlichen Waage und den zierlichen Gewichten.

Im zeitigen Frühjahr ging aber die Fuhre nach Pommern, in das geliebte Fischland. Der Großvater kaufte einem Fischer den ganzen Fang ab, ließ die Fische räuchern und in guter Butter braten. Diese köstliche Ware verkaufte er in Altenburg. Einmal fuhr der Großvater mit hinaus aufs Meer. Da erhob sich ein ungeheurer Sturm. Wie durch ein Wunder wurde er gerettet.

Später übernahm der Vater das Geschäft. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, klatschte es laut auf der Straße. Der Vater war aus dem Fischlande gekommen. Er hob mich auf und zeigte mir im Wagen die vielen Bücklinge und die Holzfässchen mit den Bratheringen. Zur Mutter sagte er: ich bin das letzte Mal im Fischland gewesen, es lohnt sich nicht mehr, die Unkosten sind zu groß. Die Eisenbahnfracht ist zu billig.

Um diese Zeit starb die Großmutter. An einem Sonntag sprang ich aus dem Bett und lief im Hemdchen in die Stube. Die Großmutter stand an der Mulde und machte Klöße. Die Stube war mit weißem Sand bestreut. Da sagte ich: Großmutter, ich habe ein Haus mit vielen Fenstern gesehen, und das Haas lief weg. Da sagte sie: Mein Kind, du hast geträumt. Das war mein erster mir bewusster Traum. Nachdem es zum zweiten Male geläutet haute, hing sie den langen Faltenmantel um, setzte die Bandmütze auf und ging zur Kirche. Viele Frauen trugen noch die Thüringer Tracht. Ich freute mich sehr, wenn die seidenen Bänder so lustig im Winde flatterten. Die alte schöne Kleidung wurde leider von der Jugend wenig gewürdigt. Nach Großmutters Tode schnitten wir Kinder von der Haube die Bänder ab und entfernten die bunten Perlen. Großvaters Kleider holte man gar zum Theaterspielen und sind spurlos verschwunden.

Großmutter hat sich viel plagen müssen. Ihr Mann war die größte Zeit des Jahres nicht zu Hause. Sie besorgte die Feldarbeiten und das Vieh und erzog ihre sieben Kinder. Sie war eine sanfte Frau und erteilte nur wenige Schläge. Aber um so harter war der Großvater. Als der Vater noch ein kleiner Junge war, hatte er zum Jahrmarkte in Bobeck bei Bekannten einen Groschen, der auf dem Fenster­stocke lag, weggenommen und sich Weinbeeren dafür gekaufte Der Großvater hat ihn an den Haaren gerauft und mit dem Peitschenstiel furchtbar geschlagen. Großvater hat es aber gut gemeint, sein Junge sollte als zukünftiger Fuhrmann ein ehrlicher Kerl sein.

Der Großvater war uns, seinen Enkelkindern, ein lieber Jugendge­nosse. Gern verreiste ich mit ihm. So fuhr ich zum ersten Male mit der Bahn nach Gera, in Debschwitz wollte er seine Tochter Therese Obenauf besuchen. Ich konnte es nicht begreifen, wie die Telegraphenstangen und die Baume wie toll vorbei sprangen. Das viele Wasser der Elster flößte mir große Furcht ein. Ich getraute mich nicht am Geländer über die Brücke zu gehen, so musste mich Großvater auf der Mitte hinüberführen. Ich entsinne mich, wie ich mit ihm zur Kirmes in Schellbach bei seinem Sohne August war. Vier Kinder waren zum Besuch da. Am Abend steckte die Tante uns alle in ein altes, bunt bemaltes Bauernbett und deckte uns  mit einer dicken Bettdecke zu. Die beiden Jungen lagen am Kopfende und die Madchen zu den Füßen. Nachdem wir uns tüchtig müde gestrampelt hatten, schliefen wir vergnügt in den zweiten Feiertag hinein. Auf der Heimkehr erwarte­ten wir auf dem Bahnhofe zu Köstritz den Zug. Da sah ich im Warte­saale etwas Wunderbares. Eine Glasglocke war über einen Aschkuchen gestülpt. Andauernd schaute ich mir das köstliche Ding an.

Großvater besuchte einmal seine Tochter Henriette Prüfer in Tautenhain. Von der Straße aus sah ich zwischen hohen Buchen das bunte Schießhäuschen hervorblinken. Lange Zeit hielt ich das Gebäude für das Dornröschenschloss. Ehe wir in ein Haus traten, wischte mir der Großvater die Stiefel ab, spuckte ins Taschentuch und reinigte mir das Geeicht, aber bei dieser Säuberung schrie und strampelte ich.

Sonntag früh band er ein schwarzseidenes Tuch um den Hale, zog den langen blauen Tuchrock an und ging mit mir zur Kirche. Dort freute ich mich am meisten aber die aus Holz geschnitzten Posaunenengel, die oben am Orgelgehäuse angebracht waren. Auf der Orgelbank saß der alte Kantor Klostermann. Die Schwalbenschwänze seines schwarzen Rockes baumelten so lustig beim Spielen hin und her. An Festtagen spielten die Musikanten mit Trompeten und Posaunen und schlugen heftig auf die Kesselpauken ein. Den alten Pfarrer Ranft [13] hielt ich wegen seines langen Bartes für den lieben Gott, denn in unserer Bilderbibel sah der liebe Gott, der auf der Erdkugel saß gerade so aus.

Eines Tages gab mir die Mutter eine Schiefertafel und eine Federbüchse in die Hand und sagte: Heute gehst du zum erste Male in die Schule. Sei immer recht fleißig und folge dem Lehrer. Großvater erwartete mich schon an der Tür und führte mich hinauf an die Schule. Unter seinem langen Rocks trug er etwas Dickes und langes, „Großvater, was trägst du unter deinem Rocke?" "Eine Wurst für den Lehrer.“ „Großvater, solche langen Würste gibt es gar nicht.“ Großvater schwieg. Der süße Glaube vom Zuckertütenbaum war in mir zerbrochen. In dem Vorraum der Schule hatten sich viele Kinder mit ihren Angehörigen versammelt. Der Großvater verschwand hinter einer großen Tür,    kam aber bald ohne Wurst zurück. Nun drängte alles in die Klasse. Mich als ein Septemberkind setzte der Lehrer zu verletzt. Verschiedene Fragen sollten wir beantworten. Unter den vielen Kindern in dem großen Raume kam es mir recht unheimlich vor. Wie froh war ich, als der Großvater in die Klasse trat und mir freundlich zunickte. Mit einer roten Zuckertüte trabte ich fröhlich nach Hause.

Am Abend setzte Großvater seine Brille auf und las in der Zeitung oder in dem Sonntagsblatte. Beim Lesen bewegten sich seine Lippen. Gern spielte er mit uns. Aus zugespitzten Hölzchen und kleinen Kartoffeln baute er Hauser und Brücken. Ana Federkielen verfertigt er kleine Knallbüchsen und ans ausgehöhlten Haselnüssen Schnurren. Am Tage war er recht fleißig. Er zerkleinerte das Feuerholz, fütterte die Tauben und Hühner, verschnitt die Spalierbäume und seine Rosenstöcke. Die Fremden blieben oft vor dem Garten stehen und, bewunderten die bunte Pracht.

Bundesschießen war in Gera. Er fuhr mit mir und meinem Bruder hinein, um den Festzug anzusehen. Da fiel er plötzlich um. Zwei Männer trugen ihn schnell in eine kühle Stube. Wir weinten laut, denn wir dachten, Großvater wäre tot. Aber der freundliche Arzt sagte: Seid nur still, euer Großvater ist nur ohnmächtig geworden. Bald stand er wieder auf der Straße. Doch seit dieser Zeit kränkelte er und ließ sich zur Stärkung ein Fässchen Naumburger Wein schicken. Er saß viel auf dem Sofa und hörte meinem Klavierspiel zu.

Abends bat er mich, das schöne Lied von Mozart: „Es klingt so herrlich, es klingt so schön“ noch einmal zu spielen. Er ging still in seine Stube hinauf und kam nicht wieder herunter. Als er sein Ende nahe fühlte, bedankte er sich bei meiner Mutter und sprach: Es wird mir schwer, von euch zu gehen. Die Verwandten kommen zu meinem Begräbnis. Sorgt gut für Essen und Trinken. Längere Zeit hatte er mit seinem Stocke nicht geklopft. Vater und Mutter gingen hinauf. Sie kamen bald wieder zurück und sagten zu uns: Seit stille, der Großvater ist gestorben. Der lange blaue Rock wurde sein Totengewand. Seine Tochter Friederike Plötner fand unter seinem Kopfkissen einen straff gefüllten Lederbeutel. Sie vermutete viel Geld. Doch er enthielt nur wertlose Knöpfe, die Großvater auf der Straße gefunden und gesammelt hatte. Alle lieben Bekannten und Verwandten waren zum Begräbnis gekommen. Die Stube war dicht gefüllt. Kaffee und Kuchen wurde verabreicht. Nach der Bestattung aber trugen die Mutter und die Köchin Suppe, Rinderbraten, Butter und Käse auf die zwei Tafeln. Der Schmaus began. Die Frauen tranken den süßen Schnaps, die Männer aber hielten sich ans Bier. Bach dem zweiten Fasse wurde es in der Stube lebendig wie in einer Schänke.

Großvater wurde geboren am 9. März 1810 und starb am 30. April 1888. Etwas über 77 Jahre ist er alt geworden. Ich habe ihm vieles zu danken. Er behütete mich auf meinen Wegen. Er erzog mich zu guten Sitten und legte den Grund zur Gottesfurcht und Vaterlandsliebe. Er förderte meine Handgeschicklichkeit, indem ich mit ihm allerlei Spielsachen anfertigte. Gern ging ich mit ihm auf Reisen und erweiterte so das Wissen über meine Umwelt. .

Vergiß, mein Volk, die treuen Toten nicht. (Körner)

Dezember 1936                  Wilhelm Bauer

 

 
[1]   Wilhelm Bauer (Lehrer, Heimatforscher) *  07.09.1875 Hermsdorf  † 31.05.1948 Hermsdorf
[2]   Abtei = Flur um Serba - Trotz - Rauschwitz
[3]   Johann Gottlob Klaus - Grundstück heute Rodaer Straße 10
[4]   Schoßkelle = Sitzplatz bei Pferdewagen; -kutschen
[5]   Käppsel = Kappe, Hausmütze
[6]   geborene Klaus - Tochter des Johann Gottlob Klaus - siehe 3.
[7]   Heute Eisenberger Str. 57
[8]   Trillmantel auch Drilmantel / Drilch = dreifädiges Leinen oder Baumwollgewebe)
[9]   Drückebäumen - Baumstangen, die als Hebel genutzt wurden

[10]  Pferderotz [Fact Sheet Rotz] Rotz ist primär eine Krankheit der Einhufer wie Pferd, Esel und Maultier; in seltenen Fällen kommt sie allerdings auch beim Menschen
                vor. In Europa so gut wie ausgerottet. Befallene Tiere müssen auch heute noch getötet werden.

[11] 1866 =  Preußisch - Österreichischer Krieg
[12] 1871 = Deutsch Französischer Krieg
[13]  Ranft = Friedrich Albin Ranft geb. 08.08.1816 war 1867 bis 1897 Pfarrer in Hermsdorf
 
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